Erzählungen
Aufbau Verlag, Berlin 2001
Klappentext: Café Brazil
Diese ebenso grotesken wie melancholischen Geschichten um ganz normale Nervtöter, um leichtsinnige Kinder oder verwirrte Großmütter stecken voll zärtlicher Bosheiten und Perfidien. Da dringt ein Mann immer noch heimlich in die Wohnung seiner Exfreundin, um dort winzige Spuren zu hinterlassen, die neue „Harmonie“ ein wenig zu stören. Ein kleiner Junge versteht nicht den Unterschied zwischen Ferkel-Schlachten und Kindstötung. Ein alter Mann in einem Altersheim berichtet über die beiden Lieben seines Lebens: einen Mann und eine Frau.
Feinsinnig, bösartig, kühl und lustvoll steuern Dückers‘ Geschichten stets auf verblüffende Wendungen zu.
Leseprobe: Café Brazil
Lebenskästchen
1.
Ich bin das Ergebnis eines Mordes. Das ist kein schöner Anfang für eine Geschichte, nicht wahr? Es ist nicht so, daß ich sehr wild darauf bin, das hier zu schreiben. Der Untersuchungsrichter hat mir drei Blatt Papier hingelegt und gesagt: „Erinnern Sie sich mal ein bißchen … dann sehen wir weiter.“
Es ist kein ungünstiger Moment jetzt zu schreiben, denn Helge und Oliver spielen einigermaßen ruhig Schiffe versenken, und Tom schläft (schnarcht allerdings wie ein Walroß). In einer halben Stunde gibt es Abendessen, und ich bin noch, bzw. schon wieder im Schlafanzug – ich versuche, soviel wie möglich zu schlafen. Schlafen ist das billigste und ungefährlichste Vergnügen. Stimmt’s oder habe ich recht? Außerdem bin ich chronisch müde. Müde vom Reden, Denken, vom Hin- und-Her-Laufen, das Muster meiner Schritte auf diesem Boden ein einziges sinnloses Zick-Zack, nein, auch das klingt noch zu zackig, eher ein Hick-Hack oder einfach die Spur eines Kreisels, der sich um sich selbst dreht und dreht. Was soll ich denn schreiben? „Kommen wir zur Sache!“ sagt er immer, der Herr Allert, mein Untersuchungsrichter mit den abgestoßenen Manschettenknöpfen und dem Busfahrerbart.
Knut war ein Mörder und, wie Ihnen bekannt ist, verschossen in Sommersprossen. Eine schlechte Schlagerzeile wert. Ich erinnere mich besser an Knut als Sie: Er hatte ein rotangelaufenes Gesicht, dicke, blaue Adern am Hals und Hände, die gar nicht zu einem Menschen zu gehören schienen, so seltsam, schwer wie Bananenstauden oder reife Trauben, baumelten sie an seinen Armen. Den kräftigen Oberkörper, mit Haaren, die aus dem Hemd quollen, trug er etwas zur Schau. Die eher dünnen Beine dagegen waren fast haarlos. Die Haut seines Gesichts war großporig und lederartig, am Hals dagegen überraschend weich, fast babyhaft; er hatte sogar ein leichtes Doppelkinn. Seine Stirn war von breiten Linien zerfurcht, die mich an die Redewendung „ein Brett vor dem Kopf haben“ erinnerten. Er hatte längeres schwarzes krauses Haar, das ihm etwas Wildes verlieh. Sein Kopf war kastenförmig, sein breiter Mund asymmetrisch, ein Mundwinkel zeigte nach oben, einer nach unten, seine Nase war recht platt, mit einem Höcker wohl von einem Nasenbeinbruch, die sehr hohe Wangenknochen verliehen ihm etwas Exotisches, das im Kontrast stand zu den sehr blauen Kinderaugen, die einen in einer Mischung aus Dreistigkeit und Naivität anglotzten.
Ich habe ihn nur einmal in meinem Leben getroffen, aber ich habe ihn mir gründlich angeschaut.
Am 5. März 1997 gegen 17.00 Uhr habe ich Herrn Knut Leerdams Leben beendet. Auf einem Schrottplatz in Hamburg. Ich habe eine abgeschlagene Cola-Flasche in seinen Hals gerammt, ein verrostetes Stopschild von hinten zwischen seine Beine gestoßen, ein altes Fahrradgestell wiederholt auf seinen Kopf geschlagen, einen Lampenschirm über sein Gesicht gestülpt und durch die Öffnung Spucke auf ihn tropfen lassen, einen aufgeweichten Pappkarton mit Legosteinen über ihm ausgeschüttet, mit den Federn eines Kinder-Indianerkostüms auf ihn eingestochen, ein fünftausendteiliges Puzzle auf seinen Nabel regnen lassen und ein buntes Kaleidoskop rektal eingeführt sowie verfaultes Gemüse auf seinem Rücken zerrieben.
Ich habe ihn mir genau angeschaut, das schrieb ich schon, und ihn dann mit zwei ölgetränkten Tüchern zugedeckt und angezündet.
2.
Zwei junge Leute, die Kunststudenten gewesen sein könnten, begegneten mir auf dem Weg zum Ausgang, beladen mit Zylindern, Zahnrädern und Eisenbahnschrauben, die sie auf die ein mal ein Meter große Waagschale legten und auswogen. Fürs Kassieren war ein kleiner weißhaariger Mann, der ununterbrochen Pistazien aß, zuständig.
Ich habe dann den Bus zurück nach Eimsbüttel genommen und im „Blue Moon“ zwei Kirscheis mit Vanillesoße gegessen. Zu Hause habe ich mein Namensschild abgeschraubt, „Leif Gone“ mit schwarzer Tinte auf die Rückseite des Schildes geschrieben und es wieder befestigt. Das ist mein Künstlername. Für das Kunstwerk meines Lebens, das mit einem Mord begann.
Was mich am meisten bedrückt, ist der Zustand meiner Mutter. Sie weint ununterbrochen, wenn sie hier ist, und bringt mir viel mit, Kuchen zum Beispiel. Aber ich merke ihre Zurückhaltung, ihren Abstand zu mir. Das Unverständnis. Sie sagt, daß ich verrückt bin, glaubt sie nicht.
Mehr als ein paar Fliegen und Frösche habe ich bis jetzt nie um die Ecke gebracht. Die Vorstellung, ich hätte jemanden getötet, kommt selbst mir total absurd vor. Es ist ganz und gar nicht langweilig im Gefängnis; das schreiben nur Leute, die nie einsaßen. Zu viele Eindrücke, zu wenig Zeit, sie zu verarbeiten, weil man ständig gezwungen wird, etwas zu tun: Frühmorgens aufstehen, gleich unter die Dusche mit zehn anderen lauten Typen, anstatt den Tag gemächlich beginnen zu können, essen, Gymnastik in der Halle, schwachsinnige manuelle Arbeiten, Zellenkontrollen … ständig ist was los. Und immer wieder neue Häftlinge, neue Lebensgeschichten, Adrenalinstöße, nächtliches Stöhnen, Streitereien.
Mit Lawrence habe ich oft einfach nur auf dem Sofa gelegen, nachdem wir miteinander geschlafen haben, stundenlang Musik gehört, das war gerade unsere Wave-Zeit, und nichts gesagt. Liebe, Liebe machen, das sind Ausdrücke, die mir schon vollends fremd geworden sind in der langen Zeit, bevor ich beschloß, Knut aufzusuchen.
Herr Allert sagte mir, ich soll über den psychischen Zustand schreiben, in dem ich mich vor dem und am Tage des Mordes befunden habe.
Ich weiß, das ist keine sehr originelle Idee, aber ich hätte gerne eine Maschine, mit der man die Zeit anhalten und zurückspulen kann wie auf einer Videokassette. Ich würde gerne nachschauen, wann und wie Knut begann, sich für meine Familie zu interessieren, so sehr, daß er Enschede in den Niederlanden verließ, nach Hamburg zog und sich verschuldete, nur um eine Wohnung in unserer Nähe zu bekommen.
Ich bin ziemlich müde, das ewige Gegröle von Helge und Tom geht mir auf die Nerven. Sie erzählen sich den ganzen Tag Fäkalgeschichten und denken sich gerade Namen für verschiedene Kothaufenformationen aus: Da hätten wir den „Doppelwhopper“, den „Sputnik“ und den „Mutterkuchen“ – ob Helge und Tom irgendeine Vorstellung haben, wie ein Mutterkuchen aussieht? Für diese vulgären Lümmel ist das wohl ihr Pendant zu dem „Motherfucker“ der Hip Hop-Musik, die sie ununterbrochen hören. Helge und Tom scheinen sich von allen Dingen auf der Welt, für die man sich begeistern könnte, nur für eines zu interessieren: Der Hintern anderer Menschen, der die beiden Dinge, die sie am meisten faszinieren, auf wundersame Weise miteinander verbindet: Sex und Scheiße. Daß die Hip Hopper noch nicht auf den „Fatherfucker“ gekommen sind, erstaunt mich.
3.
Jetzt muß ich schon wieder aufhören zu schreiben, weil wir auf den Gang sollen, es soll heute ein medizinisches Checkup geben, wegen einem Tbc-Fall vor ein paar Tagen. Helge und Tom streiten sich über das Datum der Mondlandung. Helge meint, das wäre vor dem Zweiten Weltkrieg gewesen, denn die Deutschen hätten den Mond als Raketenstützpunkt benutzt, um Rußland anzugreifen. Tom meint, er wüßte es besser, da er älter sei, und er sei sich sicher, daß dieses Ereignis in den frühen sechziger Jahren stattgefunden habe. Oliver ritzt wieder mit seinen Fingernägeln Buchstaben in die Metallstangen des Bettgestells. Dabei gibt es ein scheußliches, quietschendes Geräusch. Ich weiß, ohne hinüberzugehen, was er schreibt: O + M, M + O, O + M …
Wieder zurück. Genervt. Dieses ewige dumme Gequatsche. Auf der K-Treppe stand neben „Elvis“, unserem Lieblingswärter, eine Frau mit langen schwarzen Haaren und einer Handtasche, wie meine Oma sie tragen könnte. Ich konnte mit halbem Ohr mithören, daß sie Schriftstellerin ist, und – das hat sie so nicht gesagt – hier mal herumschnüffeln will. Na denn viel Spaß beim Schreiben …
Ich habe seit drei Tagen nichts mehr geschrieben. Der Untersuchungsrichter hat mein Geschriebsel noch nicht kommentiert, aber ich finde langsam Gefallen an daran. Wenn ich denn schon meine Kästchen und Schachteln schmerzlich vermissen muß, gezwungenermaßen meine Transformationsarbeit einstellen mußte.
Ich bin müde und verwirrt, sehne mich nach Ruhe und nach Gegenständen, die warm und still in der Hand liegen. Es macht mich krank, daß ich mein Lebenskunstwerk hier nicht fortsetzen kann, alles nimmt man mir weg, fast wünsche ich mir wieder diese Pillen, die ich damals probiert habe.
Seitdem ich hier bin, verstehe ich mein Leben nicht mehr, alles ist formlos und chaotisch, verworrene Geschichten überfluten mich täglich, schlechte Suppe, die laute Klospülung, Samenergüsse aus Körpern, die ich nicht sehe, da ich meine Augen dann fest zuhalte. Mein Lebenswebteppich produziert steuerlos wie eine entartete Zelle strukturlose Muster, Farbknäuel, häßlich und von blutiger Farbe. Es ist, als ob man den Teppich meines Körpers auf dem Strecktisch meines Lebens in alle Richtungen ziehen würde. Meine Mutter kann mir nicht mehr helfen, sie weint nur, und Vater schaut betreten auf den Boden und sagt fast nichts, wenn er hier ist. Und mein Zimmer, das Archiv meines Lebens, hat sich nicht mehr verändert seit dem Tag, an dem ich festgenommen wurde, zwei Tage nach meinem Geburtstag. Kein Zeichen, kein Indiz für all das, was mir seitdem widerfahren ist, keine Spuren mehr von mir, dort, in dem Mausoleum meines Lebens.
4.
Jetzt muß ich schon wieder aufhören zu schreiben, weil wir auf den Gang sollen, es soll heute ein medizinisches Checkup geben, wegen einem Tbc-Fall vor ein paar Tagen. Helge und Tom streiten sich über das Datum der Mondlandung. Helge meint, das wäre vor dem Zweiten Weltkrieg gewesen, denn die Deutschen hätten den Mond als Raketenstützpunkt benutzt, um Rußland anzugreifen. Tom meint, er wüßte es besser, da er älter sei, und er sei sich sicher, daß dieses Ereignis in den frühen sechziger Jahren stattgefunden habe. Oliver ritzt wieder mit seinen Fingernägeln Buchstaben in die Metallstangen des Bettgestells. Dabei gibt es ein scheußliches, quietschendes Geräusch. Ich weiß, ohne hinüberzugehen, was er schreibt: O + M, M + O, O + M …
Wieder zurück. Genervt. Dieses ewige dumme Gequatsche. Auf der K-Treppe stand neben „Elvis“, unserem Lieblingswärter, eine Frau mit langen schwarzen Haaren und einer Handtasche, wie meine Oma sie tragen könnte. Ich konnte mit halbem Ohr mithören, daß sie Schriftstellerin ist, und – das hat sie so nicht gesagt – hier mal herumschnüffeln will. Na denn viel Spaß beim Schreiben …
Ich habe seit drei Tagen nichts mehr geschrieben. Der Untersuchungsrichter hat mein Geschriebsel noch nicht kommentiert, aber ich finde langsam Gefallen an daran. Wenn ich denn schon meine Kästchen und Schachteln schmerzlich vermissen muß, gezwungenermaßen meine Transformationsarbeit einstellen mußte.
Ich bin müde und verwirrt, sehne mich nach Ruhe und nach Gegenständen, die warm und still in der Hand liegen. Es macht mich krank, daß ich mein Lebenskunstwerk hier nicht fortsetzen kann, alles nimmt man mir weg, fast wünsche ich mir wieder diese Pillen, die ich damals probiert habe.
Seitdem ich hier bin, verstehe ich mein Leben nicht mehr, alles ist formlos und chaotisch, verworrene Geschichten überfluten mich täglich, schlechte Suppe, die laute Klospülung, Samenergüsse aus Körpern, die ich nicht sehe, da ich meine Augen dann fest zuhalte. Mein Lebenswebteppich produziert steuerlos wie eine entartete Zelle strukturlose Muster, Farbknäuel, häßlich und von blutiger Farbe. Es ist, als ob man den Teppich meines Körpers auf dem Strecktisch meines Lebens in alle Richtungen ziehen würde. Meine Mutter kann mir nicht mehr helfen, sie weint nur, und Vater schaut betreten auf den Boden und sagt fast nichts, wenn er hier ist. Und mein Zimmer, das Archiv meines Lebens, hat sich nicht mehr verändert seit dem Tag, an dem ich festgenommen wurde, zwei Tage nach meinem Geburtstag. Kein Zeichen, kein Indiz für all das, was mir seitdem widerfahren ist, keine Spuren mehr von mir, dort, in dem Mausoleum meines Lebens.
5.
Der Anfang vom Ende:
Knut arbeitete auf einem Kirmesplatz in Enschede; er hob die kleinen Kinder auf die Sitze des Riesenrads. Er ging sehr fürsorglich und lieb mit ihnen um. „Niet bang zijn“, sagte er immer, fuhr ihnen kurz durchs Haar. Meine Schwester, ihr Name eine kobaltblaue Glasperle in meinem Zimmer, nahm bereitwillig Knuts große Hand, als sie in eine Gondel kletterte, er half ihr, das linke Bein über den bunten, mit Flokatistoff beklebten Rand der Gondeln zu heben. So genau weiß ich das eigentlich nicht, denn ich war nicht dabei, aber meine Mutter hat es mir so und nicht anders Hunderte von Malen erzählt. Es gibt sogar ein Foto von meiner Schwester, wie sie lachend in der Gondel sitzt, die gerade erst ein Viertel der Radhöhe erklommen hat.
Zwei Tage später half ihnen der gleiche Knut bei „Hema“ in der Spielzeugabteilung, eine bunte Hängematte und ein großes Känguruh mit Brusttasche für meine Schwester auszusuchen. Meine Mutter konnte ihn nur mühsam davon abbringen, die Sachen in das Ferienhaus zu tragen.
Drei Monate später war Knut ihr Nachbar in Eimsbüttel. Er bot sich an, meine Schwester zur Schule zu bringen, abzuholen und ihr bei den Hausarbeiten zu helfen; nicht mal eine polizeiliche Verwarnung nahm ihm seinen Eifer. Das war alles vor meiner Geburt. Zu Zeiten, wo kein Gedanke an mich verschwendet wurde.
Knut legte weiterhin Spielzeug, Überraschungseier und selbstgepflückte Blumensträuße „für de kleine Prinsesin“, wie er in seinem Gemisch aus Niederländisch und Deutsch schrieb, vor unsere Tür. Manchmal ließ er sich wochenlang nicht blicken, doch dann tauchte er plötzlich, als würde er Schabernack mit meinen Eltern treiben, an irgendeinem Ort völlig unvermittelt auf: Im Planetarium bei der Kindervorführung um 15.00 Uhr, bei einem Sonntagausflug am See, einmal sogar im Garten meiner Großeltern im Sauerland. Meine Eltern waren seiner Versuche, Aufmerksamkeit zu erhaschen, irgendwann so überdrüssig, daß sie sie konsequent ignorierten. Auch meine Schwester ging stoisch ihren Schulweg, ob er da mit seiner Kindermundharmonika stand oder nicht.
Aber am Morgen des 3. März fand man meine Schwester, von siebzehn Messerstichen getötet, auf einem Schrottplatz schräg gegenüber ihrer Schule.
Knut hat nie ein Geständnis gemacht, aber einige Indizien sprachen dafür, daß er der Mörder gewesen ist. Passende Fußabdrücke auf dem matschigen Boden, ein Schulheft meiner Schwester in seiner Wohnung, verworrene Aussagen über seinen Tagesablauf am 2. und 3. März (ihr Todeszeitpunkt wurde auf den frühen Abend des 2. März gelegt, wo sie wie oft auf dem Spielplatz mit ihren Freundinnen Tischtennis spielte) und sein schuldbewußt wirkendes Betragen vor Gericht. Er wurde jedoch von einem Gerichtspsychiater für nicht zurechnungsfähig erklärt, da er unter einer endogenen Psychose litt (er erzählte von Stimmen, die ihm nachts Märchen vorlasen) und einen Intelligenzquotienten unterhalb der Debilitätsgrenze aufwies. Knut verbrachte die nächsten zwölf Jahre seines Lebens in einer psychiatrischen Klinik.
Meine Mutter war 41, als das alles geschah. Ironie des Schicksals: ein Jahr später, fast am Todestag meiner Schwester, wurde ich, das Ersatzkind, geboren. Mich gibt es nur, weil meine Schwester so früh gestorben ist. Meine Eltern – beide berufstätig und keine „Kinder-sind-das-Einzige-in-unseren-Leben-Eltern“ – wollten nie zwei Kinder haben. Den Tod meiner Schwester zu betrauern, hieß für mich, mich selbst tot, ungeboren zu wünschen. Mein eigenes Leben zu genießen, hieß für mich, einem Mord in der eigenen Familie innerlich zuzustimmen. So schien es mir zumindest lange Zeit. Ein bißchen Abstand zu all dem bedeutete das Jahr, das ich als Austauschschüler bei einer amerikanischen Gastfamilie in Colorado verbrachte. Das war 1993. Dort verliebte ich mich in Lawrence, den Sohn meiner Gastfamilie, und kapierte, daß es möglich sein kann, meinen Körper zu genießen, ohne zu denken, hier, an meiner Statt könnte jetzt der Körper meiner Schwester liegen. Doch in Deutschland grübelte ich wieder über ihn nach, diesen Knut, und es beunruhigte mich, daß ich bis dahin so wenig in der Lage gewesen war, ihn zu begreifen und in mein Kabinett einzuordnen. Nicht um ihn und das, was er wohl getan hat, zu akzeptieren, sondern um die Bombe in meinem Kopf zu entschärfen und die mit ihm verbundenen Ereignisse genauso dingfest zu machen wie all die anderen Erlebnisse in meinen vielen Schachteln. Ich mußte ihn finden. Ich mußte wissen, wer er ist.
Er war zunächst in ein anderes Heim verlegt worden, wo die Insassen, nein, Patienten sagt man ja, freien Ausgang haben. Nach drei weiteren Jahren, also fünfzehn insgesamt, wurde der nunmehr Achtundvierzigjährige freigelassen. Er bekam eine kleine Wohnung in einem Viertel mit Sozialwohnungen bei Horn zugewiesen und arbeitete seitdem für wenig Geld als Putzkraft in einem Bürokomplex.
Ich hatte mir einen Trick ausgedacht und bekam ihn auch gleich beim ersten Anruf ans Telephon. Es war ein frostiger, windiger Februartag, als ich ihn anrief.
„Wer … is … da … hä?“ machte Knut.
„Guten Tag, hier ist Leif Gone, Journalist für die Deutsche Welle. Wir bereiten ein Feature zu dem Thema: ‚Die Niederländer und die Deutschen‘ vor, denn uns interessiert gerade in dieser politisch brisanten Zeit, wie die Niederländer über die Deutschen denken, wir möchten mit unserem Feature zum Dialog zwischen diesen beiden Nachbarländern beitragen. Deshalb, Herr Leerdam, wären wir Ihnen, als gebürtigem Niederländer, sehr dankbar, wenn wir ein Interview mit Ihnen durchführen könnten. Selbstverständlich erhalten Sie ein Honorar.“
6.
Soviel Mühe hätte ich mir gar nicht machen müssen, denn er schien wirklich nicht mit großen Geistesgaben gesegnet zu sein und interessierte sich nur für das Honorar. Er war sofort bereit, sich mit mir zu treffen. Nicht mal die Örtlichkeit machte ihn stutzig: die Ecke, an der sich der Eingang zum Schrottplatz befindet, auf dem meine arme Schwester sterben mußte. Ich hatte befürchtet, daß er Verdacht schöpfen könnte, aber ich wollte keinen anderen Treffpunkt vorschlagen, da nur ein Stelldichein an diesem Platz den Zyklus des Schreckens und der inneren Qualen in meinem Leben zu Ende bringen würde. Nach dieser Begegnung würde ich in einen neuen Zyklus übergehen und schwarzen Samt über die vielen Kästchen und Schachteln, die mein Leben bisher hervorgebracht hat, legen und nur noch gelegentlich in ihnen stöbern. Dann würde die Befreiung beginnen, etwas, das die Farbe des Himmels über Colorado am heißesten Tag des Jahres hat.
Ich hatte mich also mit Knut Leerdam für 16.30 Uhr an besagter Straßenecke verabredet. Bislang hatte ich nur ein Foto von ihm gesehen, da war er Zweiundzwanzig. Das Foto liegt bei meinen Eltern mit einigen Zeitungsausschnitten und Gerichtsunterlagen in einem schmutziggelben Ordner, an dessen Ende die erste Fotoserie von mir als Baby anfängt.
Ich war aufgeregt an diesem Tag, so aufgeregt, daß es sogar meinem Vater auffiel, der meinte, ich würde mich wie meine Schwester benehmen, damals zu Weihnachten, wenn sie vor dem Tannenbaum stand. Ich sagte meinen Eltern nicht, was ich vorhatte, sicher hätten sie versucht, mich von dem Treffen abzuhalten.
Um Viertel nach drei ging ich los, denn ich wollte auf dem Schrottplatz eine große Schere besorgen, und vielleicht würde ich ein paar andere Sachen finden, denn ich mußte die letzten zwei Wochen noch materialisieren, da gab’s einige Lücken. Ach, was für ein Wortspiel, nämlich eine Zahnlücke, ja im Ernst, ich bin nämlich in einer Kurve vom Fahrrad geflogen und habe mir einen halben Schneidezahn abgebrochen, dafür mußte mir noch etwas einfallen. Herr Allert, nerve ich Sie jetzt?
Ich wurde fündig und wog meine Sächelchen auf der riesigen Waage ab; der weißhaarige Mann, der wie ein Russe aus dem 19. Jahrhundert aussah, berechnete mir 13 Mark 50 und legte das Rückgeld mit seinen roten furchigen Händen auf die stumpfe Waagschale. Ich ging, immer nervöser, zum Eingang des Schrottplatzes, die Schere unter meiner Jacke versteckt, denn damit wollte ich – ehe Knut sich versah – ein Stück von seiner Jacke oder seinem Hemd ausschneiden, ganz schnell, ein kleines Stück für meine besondere Schachtel, in das ich es dann zusammen mit einem Stück von dem Kleid, das meine Schwester an ihrem Todestag anhatte, legen würde, und diese Schachtel würde ich an ihren vorgesehenen Platz unter allen anderen Boxen und Schachteln legen, ganz zuunterst, und vom Gewicht der über ihr lagernden Schachteln und Kästchen würde ihr Pappdeckel langsam eingedrückt werden.
Es war Punkt halb fünf. Ich wartete. Zehn Minuten vergingen. Ich öffnete den Filzkasten, den ich gerade erstanden hatte, und legte einige Werkzeuge, die ich auch gekauft hatte, hinein. Kein Knut. Ich war enttäuscht und verärgert. Mir fiel ein, daß er, falls er mir hätte absagen wollen, unter „Leif Gone“ von der Auskunft keine Telephonnummer bekommen hätte. Wenn Knut überhaupt schlau genug war, an so etwas wie die Auskunft zu denken. Doch da kam eine kräftige, große Gestalt mit angegrautem, krausem Haar und platter Nase auf mich zu.
„Herr Gooone? Ich bins.“
Eine harmlos klingende, überraschend helle Stimme kam aus seinem schweren, gedrungenen Körper.
„Herr Leerdam, ich habe auf Sie gewartet, ich dachte schon, Sie kommen gar nicht mehr.“
„Tschuldigung … hab mich verfahren, falscher Bus, das is nämlich nich die neun, sondern die einhondertdreijunzwanzich, ich kenn mich hier nicht so aus, war noch nie in dieser Gegend … aber tut mir leid, daß Sie auf mich warten mußten … hab vielleicht was zur Entschädigung für Sie in meinem Anorak.“
Knuts dicke, kräftige Hand verschwand in seiner Manteltasche, und während ich noch über seine Sätze nachdachte, holte er einen kleinen Schlumpf, der auf einer Harfe spielt, hervor. „Der Musik-Schlumpf“, erläuterte er mir mit breitem Lächeln, „der macht Ihnen wieder gute Laune!“
Aber ich war verwirrt und nicht in der Lage, auf die fröhliche Kumpelschiene einzusteigen, ich starrte nur entsetzt und voller Ekel auf seine kräftigen roten Hände und dachte an die Bilder von meiner kleinen Schwester, die jetzt älter wäre als ich, und ein sehr sonderbares Gefühl, das ich nur von ganz früher kannte, überkam mich. Ich merkte, daß ich anfing zu zittern. Ich bewegte meine Lippen, erst lautlos, dann flüsterte ich:
„Bring mich um.“
Ich wiederholte es mit flehender Stimme: „Bring mich um.“
Dann sagte ich in englisch ebenso schnell und leise in sein perplexes Gesicht: „If you need anything, it’s here“.
Ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe. Lawrence hatte das gesagt und Kondome und Gleitcreme damit gemeint, und ich gab meinem befremdet guckenden Gegenüber jetzt den Filzkasten vom Schrottplatz. Knut öffnete den Kasten nicht einmal, er sah mich nur völlig bedeppert an, wie ein Tier, dem man Tricks beibringen will, die es nicht versteht. Dann runzelte er die Stirn. Ich zitterte und wartete auf seine Reaktion. Ich fixierte seine blauen, undurchdringlichen Kinderaugen. Er regte sich nicht. Er schien nachzudenken. Dann, plötzlich, begann er schallend zu lachen, er schlug sich auf die Schenkel, er grölte und hatte Tränen in den Augen.
„Ich kann dir einen Ort sagen, wo se dich wieda heile machen!“ brachte er unter Lachen hervor. „Du … du krankes … doofes … Huhn!“ kam es aus ihm heraus.
An diesem Punkt beginnt die große Leere in meinem Kopf. Ich haßte ihn plötzlich unbändig, wie er so da stand und mich auslachte, und ich griff wahllos nach irgendwelchen Gegenständen auf dem ersten der Müllberge neben uns und schlug auf ihn ein.
Aber ich will und kann darüber nicht weiter schreiben. Ich habe Kopfschmerzen. Ich bin müde. Ich will zurück zu meinen Kästchen.
© Tanja Dückers, „Lebenskästchen“ aus „Café Brazil“, Erzählungen, Aufbau Verlag, Berlin 2000