Lyrik
Bonsai typ Art Verlag, Berlin 1996
Leseprobe aus Morsezeichen
Einfache Worte
Einfache Worte wie
Fenster Buch Brot –
Worte wie sie hier auf meinem
Fensterbrett an einem grauen
Novembertag kauernd herumlungern
Ohne Zusammenhang etwas verloren stehen nein
gammeln sie in meiner Wohnung vor meiner Haustür
in meinen Sätzen herum
Karge leere Worte wie Tundra wie alphabetische Einöde,
wie eine Einsiedlerin einsilbe ich vor mich hin
Worte wie Kieselsteine rundgeschliffen und gewöhnlich
wie Blech
tönen Wortkarosserien
scheppern ohne Inhalt
stehen leer an schmutzigen Bordsteinkanten
wartend – auf nichts
Heute Worte wie Graubrote
oder Kekse von Aldi
Wie Kopfsteinpflaster oder Klopapier
Worte wie „und“ oder „sehr“ oder „noch“
Die in Hunderten täglich tief gebückt
in lange graue Mäntel gehüllt
die Satzstraßen durcheilen
Worte fallen heute
zufällig wie Schuppen aus den Haaren
bedeutungslos
wie Kaugummis auf den Boden
Heute fallen Worte
ein wenig lose
aus meinem vollgerümpelten Mund
Geheime Botschaft
Die Stadt klimpert ihr Uhrwerk.
Absätze klappern ihr Staccato über Gullierändern.
Papierkörbe wiederkäuen Liebesgedichte,
und in den Straßenrinnsälen Berlins kleben die Utopien
der Buswartenden, die diese in dem Moment, wo sie
das Trittbrett des Busses besteigen, geschwind
von sich abstreifen.
In den Mülltonnen auf den zweiten Hinterhöfen warten
abgenagte Lutscherstiele unter Fischgräten, Kartoffelresten
und alten roten Socken. Unter leeren Geschirrspülflaschen,
abgebrochenen Absätzen, erbrochenen Mageninhalten,
zerrissenen Briefköpfen, zerknüllten Beschwerdebriefen,
schmierigen und zerplatzten Kondomen, einem zerfetzten
Horoskop und endlich ausrangierten häßlichen Hochzeitsgeschenken,
unter eitrigen Pflasterstreifen, knackenden Eierschalen, dunkelroten Tampons, Stäbchen mit blutdurchsetztem Ohrenschmalz, unter mit Hakenkreuzen dekorierten Zetteln, Gerichtsvorladungen und ausgerissenen Reklameblättchen für Kapseln zur Erhöhung der männlichen Leistungskraft, unter dreckigen Unterhosen, unter Beipackzetteln von Tranquilizern und zerheulten Taschentüchern
wartet
mit unstillbarer Neugierde
der nasse, lechzende Boden der Mülltonne,
gefangen in seinem Grottendasein,
ein Spaltbreit Tageslicht, hin und wieder,
auf das nächste geheime Geständnis.
Narziß
Er ging hinaus zur Brücke,
betrachtete sein Spiegelbild im Wasser.
Er konnte wieder keinen Makel
auf seinem Gesicht erkennen.
als er sich am letzten Tag genauestens inspizierte.
Dreißig Jahre lang das gleiche Gesicht
Dieses Gesicht, dem er versucht hatte,
zu entfliehen.
Er ging viel unter Leute, verausgabte,
überreizte sich selber,
ließ die Küsse von Frauen
an seinem Gesicht herabgleiten,
sammelte ihre Häute.
Nichts, er sah aus wie immer,
das jungenhafte Gesicht,
zart, unverbraucht,
immer die gleiche Mimik.
Als er sprang und in die
Wasseroberfläche eintauchte,
verzerrte sich sein Gesicht vollständig,
löste sich auf in der unendlichen
Umarmung des Flusses.
Er starb glücklich.
Buchstaben zum Frühstück
Ich könnte schreiben.
Oder versuchen zu sprechen.
Ich könnte nachts in einen Brief klettern.
Auf Papier schlafen.
Deinen Plastikmund küssen,
Bibliotheksausweis.
Ich könnte meine Initialen in lehmige Wände ritzen.
Die unleserlichen Linien in meinen Händen
in ein leises Gemurmel übersetzen lassen.
Meine schöne, nasse Zunge
zwingen, sich in einen roten, dicken Satz
zu verformen.
Mein Rückgrat, ein gekrümmtes Wort.
Ich könnte schreiben
oder versuchen zu sprechen.
Ich will es aber nicht.
Himmelsquadrat
Es gab nichts, was dem rieselnden Stuck dieser
Zimmerdecke gleichkam,
dem feinen Zittern der Fensterscheiben,
das meine Gedanken zu bändigen vermochte.
Unsichtbares Lasso.
Ich habe mein quadratisches Herz an
den Wänden dieses Zimmers gescheuert.
Mit diesem rauhfaserigen Organ, diesem Lappen,
habe ich jede Kante, jede Ritze berührt.
Türen ohne Klinken jaulten sich in ihren
senkrechten Winterschlaf.
Das Zimmer lag im sechsten Stock,
abseits, himmelwärts,
Geheimkabinett,
dessen Wände viel dicker erschienen als sie
eigentlich waren.
Dieses Zimmer ist von einem Tag auf den anderen
verschwunden.
Unsichtbares Lasso, seither.
© Tanja Dückers, 5 Gedichte aus „Morsezeichen“, Lyrik und Kurzprosa, Bonsai typ
Art Verlag, Berlin 1996