ZEIT Online, 18. Dezember 2007
Über kaum etwas herrschen in Deutschland so viele Fehleinschätzungen und Vorurteile wie über das Einkommen von Angehörigen prestigeträchtiger Berufe. Die Vermögensverhältnisse und -diskrepanzen früherer Zeiten wirken in unseren Köpfen noch nach. Unsere Ökonomie hat sich so schnell verändert, dass unsere gewohnheitsmäßigen Vorstellungen über andere Menschen im selben Land nicht hinterhergekommen sind. Immer noch gebräuchliche Begriffe wie „Götter in Weiß“ lassen Großmutters Ehrfurcht aufscheinen.
Tatsächlich sind gerade die Einkommen von Akademikern viel niedriger als die Mehrzahl der Bürger annimmt. „Frei, aber arm“ hieß ein Beitrag in der Sendung „Monitor“ vom 15. November 2007, der folgendes beschrieb: Rund 15 Prozent der deutschen Architekten sind arbeitslos. Etwa 30 Prozent der freiberuflichen Architekten verdienen monatlich weniger als 1250 Euro netto. Ähnlich ist die Lage von Journalisten und Rechtsanwälten: Freie Zeitungsjournalisten verdienen durchschnittlich 1200 Euro netto im Monat. Seit 1995 sind die Gewinne von auf eigene Rechnung arbeitenden Anwälten um rund 30 Prozent zurückgegangen. Das durchschnittliche Einkommen eines solchen Anwalts liegt bei 1500 Euro netto im Monat.
Die Arbeitslosigkeit sinkt, die Konjunktur erlebt einen Aufschwung. Dennoch sind in Deutschland nach wie vor mehr als drei Millionen Menschen ohne Arbeit, weitere drei Millionen Erwerbstätige erhalten weniger als 940 Euro netto im Monat. Immer häufiger trifft es auch Gruppen von Arbeitnehmern, die bisher eigentlich immer ganz gut verdienten.
Wer von einer „gespaltenen Gesellschaft“ spricht, meint damit häufig fälschlicherweise eine duale, horizontale Spaltung in oben und unten, arm und reich. Doch die Risse, die durch unsere Gesellschaft gehen, werden in Zukunft vielfältiger sein. Sie werden die Gesellschaft stärker vertikal teilen, etwa durch Einkommensgefälle innerhalb derselben Berufsgruppe, etwa unter Anwälten und Ärzten, sie werden weniger vorhersehbar sein und plötzlicher auftreten.
Diese neuen Spaltungsprozesse sind jedoch nicht nur ein Problem Deutschlands, sondern aller Industrienationen, in denen die Auflösung klassischer Arbeitsstrukturen und ein hoch individualisiertes Konsum- und Freizeitverhalten zu sehr heterogenen Strukturen geführt haben. Teilte sich die Arbeitsgesellschaft in den fünfziger und sechziger Jahren noch vornehmlich in Unternehmer, Angestellte und Arbeiter, so haben heute zwei Gruppen wesentlich mehr Mitglieder als früher: die Arbeitslosen und die Selbstständigen. Beide Gruppen sind alles andere als homogen.
Unter den Selbstständigen befinden sich Scheinselbstständige, feste Freie und andere Mischungen aus Angestellten und Selbstständigen: Die Journalistin zum Beispiel, die als freie Autorin für verschiedene Medien arbeitet und gleichzeitig zu einem befristeten Forschungsprojekt beiträgt, der Lehrer, der neben seiner Tätigkeit im Schulbetrieb auch noch Bücher schreibt und Lesungen gibt, oder der Subunternehmer, der Führungskraft und Angestellter in Personalunion ist. Die USA haben uns vorgemacht, wie es sich mit drei Jobs zur gleichen Zeit und durchschnittlich elf Arbeitsstellenwechseln in einer Erwerbstätigenbiographie lebt. Der Trend wird so schnell nicht umkehrbar sein.
Doch dieser Prozess ist nicht nur negativ zu bewerten, wenngleich die Zersplitterung in unzählbar viele Subgesellschaften uns ein hohes Maß an Eigeninitiative, Selbstorganisation und Extrovertiertheit abverlangt. Die Frage ist, ob die Anforderungen an den Viele-Arbeiten-Nehmer von heute dem vorherrschenden Sozialtypus entsprechen – oder ob nicht schon das zum beruflichen Überleben nötige „Multitasking“ eine so komplexe Aufgabe ist, dass es Menschen mit schlechten Startchancen überfordert. Nicht jeder sucht in seinem Beruf größtmögliche Freiheit, Kreativität und Selbstverwirklichung. Nicht jeder freut sich über möglichst viel Eigenverantwortung und Distanz zur Chefetage. Nicht immer bedeuten flache Hierarchien im Vergleich zu klar autoritär strukturierten Arbeitsorganisationen weniger Mobbing. Und nicht jeder möchte samt Arbeitsplatz ans andere Ende der Republik ausgelagert werden und seiner ehemaligen Firma nur auf Honorarbasis zuarbeiten – nie wissend, ob er in drei Monaten noch mit dabei sein wird.
Die neuen Spaltungen bringen eine neue Unübersichtlichkeit mit sich. Sie produzieren zwar eine Gesellschaft, die nach wie vor in arm und reich gegliedert ist (mit einem ausgeprägten Gefälle), aber keine Klassengesellschaft im herkömmlichen Sinne mehr. Die Arbeiterklasse von einst existiert ohnehin nicht mehr, da die Anzahl der einfachen ungelernten Arbeiter durch Automatisierungsprozesse stark zurückgegangen ist. Sie wurde durch die neue Unterschicht abgelöst, die sich nicht nur durch Einkommensverhältnisse definieren lässt: Eine Edelbordell-Prostituierte, die 12.000 Euro im Monat verdient, gehört aus wertkonservativer Sicht sehr wohl zur Unterschicht – nicht aber, was ihre Einkommensverhältnisse anbetrifft. Ein arbeitsloser Anwalt hingegen ist kein typischer Vertreter der Unterschicht. Zu früheren Zeiten der klassischen Dreiteilung in Unternehmer, Angestellte und Arbeiter gab es eine viel größere Kopplung von Einkommen und Bildungsgrad.
Vorurteile über bestimmte Berufsgruppen, über habituelle Aspekte und andere soziale Codes werden in Zukunft also weniger Gültigkeit besitzen. Die Orientierung in der Gesellschaft wird schwieriger: Sie hängt mehr vom Einzelfall ab. Man kann heute – das haben wir den Amerikanern nachgemacht – schneller vom Barkeeper zum gefragten Model werden und danach wieder an den Tresen geraten, diesmal vielleicht auf der anderen Seite. Diese Aussicht ist alles, was wir den ökonomisch Abgehängten in Zukunft bieten können.