Frankfurter Rundschau, 17. September 2005
Wenn man über große Themen wie Freiheit und Sozialstaat, Familie und Verantwortung schreibt, sollte man vielleicht ein wenig Demut walten lassen. Doch der sich zum Soziologen berufen fühlende Udo di Fabio preist uns im Gestus des Welterklärers die alte Trias Familie, Kirche und Verantwortung – gewürzt mit „preußischen Tugenden“ unter dem Banner des flotten Neoliberalismus an. Was er dabei geflissentlich ausläßt, ist eine überzeugende Erklärung dafür, wie Stoibers sogenanntes Lederhosen & Laptop-Modell (also Tradition & Neoliberalismus) in realiter funktionieren könnte. Ich bin – mit Richard Sennett und anderen modernen Soziologen statt mit Fichte im Gepäck – davon überzeugt, daß dieser Spagat schizoid ist. Denn während einerseits die Arbeits- und Lebensverhältnisse flexibilisiert und fragmentarisiert werden, sollen andererseits – völlig ungetrübt von solchen Entwicklungen – der Glaube an die klassische Familienstruktur, die Religiosität und der „Gemeinsinn“ florieren. Abgesehen davon, daß diese „Werte“ nicht für jeden die gleiche Bedeutung wie für di Fabio haben müssen und viele Menschen heilfroh sind, sich aus dem Würgegriff von Familienstallwärme, Kirchendoktrin und „verantwortungsbewußtem“ Nachbarschaftsterror befreit zu haben: Die Zunahme von Patchwork-Familien, von Lebensabschnittspartnerschaften, Singletum und Kinderlosigkeit – alles nur launige Modeerscheinungen, die nichts mit den neuen prekären Arbeitsverhältnissen zu tun haben?
In „Der flexible Mensch“ (1998) beschreibt Richard Sennett diese Veränderungen, die der Neoliberalismus auf privater und beruflicher Ebene bei den Berufstätigen hervorruft. Die immer kürzeren, überschaubaren Zeitabschnitte einer Beschäftigung (Honorarverträge statt fester Anstellung), die sich hieraus zwingend ergebende mangelnde Firmentreue, die zunehmend geforderten häufigen Wohnortwechsel (gerade wieder schimpfte eine Phalanx führender Manager über die zu große „Seßhaftigkeit“ der Deutschen) wirken auf die Psyche ein und bringen einen veränderten Sozialtypus hervor – eben nicht den auf langfristige Werte ausgerichteten kinderlieben, kirchenaffinen, braven Familienpapi à la Fabio. Der hat es immer schwerer in Zeiten, in denen der Feierabend zu einer flexiblen Größe wird, die sich nach Belieben bis in die Nacht und in das Wochenende verschieben läßt. „Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps“ hieß es mal. Gleitende Arbeitszeiten, das rollende Büro mit Laptop und Standleitung, wechselnde Teams und Mitarbeiter sollen nun die eigene Motivation erhöhen und steigern doch vor allem den Leistungsdruck. Familien- oder kinderfreundlich ist das nicht. „24/7“, vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, hat der selbsternannte Zukunftsforscher Jeremy Rifkin diese Anforderungen in einer knappen Formel zusammenfaßt.
Noch nie hat es in Deutschland so viele Selbständige oder „feste Freie“ gegeben wie heute. Während früher Honorarjobs, Zeitarbeit, Projektaufträge oder Subunternehmen für eine kleine Schicht von Akademikern, Künstlern und Medienschaffenden charakteristisch waren, sind sie nun auch bei ehemals einfachen Angestellten und Arbeitern anzutreffen. Selbst Arbeitsformen, die man im vorletzten Jahrhundert vermutete, werden plötzlich wieder diskutiert: Tagelöhner und stundenweise Beschäftigung auf Abruf. Das Rad der Zeit dreht sich zurück. Und mit ihm büßen einige wichtige familien-, kinder- und frauenfreundliche Errungenschaften an Nachhaltigkeit ein. Denn auch der Übergang von der Ausbildung zum Berufsleben mutiert zu einer undefinierten Grauzone: Bis junge Akademiker eine feste Anstellung finden, vergeht nicht selten eine ganze Dekade. Prekäre Arbeitsverhältnisse betreffen nun genau diejenigen, von denen eigentlich „erwartet“ wird, daß sie Nachwuchs zeugen. Während früher Akademiker mit Dreißig in Lohn und Brot standen und mit vierzig ein eigenes Haus beziehen konnten, warten Uni-Dozenten jetzt oft noch bis weit übers fünfzigste Lebensjahr hinaus auf einen geregelten Arbeitsvertrag. Wer dann endlich fest im Sattel sitzt, ist meist aus dem Alter heraus, in dem er noch eine Familie gründen will. Doch bei Fabio – er selbst ist nicht gerade von prekären Arbeitsverhältnissen betroffen – scheint die Zunahme von Patchworkfamilien, Kinderlosigkeit und so etwas wie „mangelndem Gemeinsinn“ lediglich auf eine korrekturbedürftige „Haltung“ zurückzuführen zu sein. Als gäbe es zum Beispiel keine ungewollte Kinderlosigkeit (gerade bei den „älteren“ Akademikerinnen) oder kein Bedürfnis nach tiefer Bindung – und Kindern – bei Homosexuellen. Alles nur eine reine Einstellungssache, eine Geschmacksfrage. Ein Mangel an Idealismus bei den Nörgeldeutschen, Punkt.
Wie sich der fiebrig-libertäre Markt und das sprunghafte neoliberale Wirtschaftsmodell mit ehernen Familienwerten in Konsonanz bringen lassen, erklärt Fabio nicht überzeugend. Sein Lösungsvorschlag ist: Die in seinen Augen negativen sozialpsychologischen und demographischen Folgen des hiesigen Neoliberalismus sollen nicht durch Veränderungen der materiellen Bedingungen, sondern – und das ist typisch für Konservative wie Stoiber oder Fabio – durch ein althergebrachtes moralisches Korsett korrigiert werden. Die neuen Feindbilder sind deshalb genau diejenigen, die die „bindungslosen“ Verhältnisse besonders prägnant verkörpern: Homosexuelle, Kinderlose und Singles. Nicht die Verhältnisse, sondern die Menschen sollen verändert und umgeformt werden. Mit dem erhobenen Zeigefinger. So etwas hat noch nie funktioniert.