Frankfurter Rundschau, 7. Mai 2005
Der 1. Mai? Trotz Rekordarbeitslosigkeit kein großes Thema mehr. Der 8. Mai dagegen wird dieses Jahr, 60 Jahre nach dem Kriegsende, zum politischen Brennpunkt. Viele der heute 30 bis 40jährigen oszillieren zwischen starkem Interesse an der jüngeren „deutschen Vergangenheit“, insbesondere in bezug auf die eigene Familie und Herkunft, und postschulischem „Übersättigungssyndrom“ hinsichtlich des NS-Themenkomplexes. Dieses „Übersättigungssyndrom“ wird den Jüngeren gern als „apolitische Haltung“ vorgeworfen; dabei wird oft übersehen, daß diese Haltung nicht in erster Linie auf thematisches Desinteresse, sondern auf die Art der Vermittlung zurückzuführen ist: In wohlmeinender pädagogischer Absicht wurden viele der heute jungen Erwachsenen im frühesten Alter zum Ansehen von Dokumentationen über das Dritte Reich und von Kriegsfilmen genötigt, die mit grausamen Details nicht eben sparsam umgingen. Ähnlich am Adressaten „vorbei“ war oft der Schulunterricht (in Westdeutschland), in dem auf sehr abstrakte Weise das Dritte Reich vollkommen egalitär mit anderen Epochen von der Vor- und Frühgeschichte bis zur Gegenwart „durchgenommen“ wurde. Die Diagramme, Daten und Fakten aus dem Unterricht schienen in keinem Zusammenhang zu dem Land, in dem man aufwuchs, zu stehen. Nie kam es einem in den Sinn, daß die eigenen Lehrer diese Zeit damals selbst erlebt hatten.
Die Schriftstellerin Juli Zeh schreibt „abgesehen davon ist örtliche Heimatliebe keine leichte Übung, wenn man von Kindesbeinen an gelernt hat, daß der Boden unter den eigenen Füßen mit dem Tatort eines grauenvollen Verbrechens identisch ist (…)“ und spricht hiermit die Erfahrung vieler an, die einerseits im kommoden Wohlstand der sechziger und siebziger Jahre aufwuchsen und andererseits nie recht warm werden konnten mit dem Land, das sich ihre Heimat nennt. Eskapismus, diskrete politische Abstinenz oder auch lärmendes „Anti-Deutschtum“ waren die Folge. Denn gerade diese Generation konnte auf eindrückliche Weise erleben, wie in der Bundesrepublik in bezug auf die NS-Zeit „offizielles“ und „privates Erinnern“ auseinanderklafften, wie politisch korrekte Gedenkkultur und privat recht zügellose Schimpferei über „Juden“, „Zigeuner“ und „Russen“ über Dekaden koexistierten.
Harald Welzer untersuchte in seiner Studie „‚Opa war kein Nazi‘. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis“ (2002) in welcher Weise Erinnerung transgenerationell übermittelt wird. Er kommt zu dem Ergebnis, daß die jüngere Generation einerseits die bestinformierte nach dem Zweiten Weltkrieg ist (Stichwort: Übersättigung) und andererseits vollkommen abgekoppelt hiervon den inhaltlich so anderen Erzählungen der Großeltern zu Hause am Küchentisch lauscht. Dieses „private“ Erinnern sei jedoch naturgemäß höchst subjektiv. „(…) in den letzten Jahren ist deutlich geworden, daß auf der Ebene privater Erinnerungen ein ganz anderes Bild von der Vergangenheit gepflegt wird als im kulturellen Gedächtnis der Bundesrepublik. Während diese den Holocaust und die nationalsozialistischen Verbrechen ins Zentrum stellt, kreist die private Erinnerung der Familien um das Leiden der Angehörigen unter dem Krieg, das Durchschlagen in schlechten Zeiten (…)“, konstatiert Welzer.
In seinem Buch „Vom Verschwinden der Täter“ (2004) setzt sich Hannes Heer mit eben dieser Absenz der Täter auseinander und rekurriert auf ihre Personalisierung. Die meisten deutschen Großväter und Großmütter würden vom Bombenkrieg, von Hunger, Flucht und Not erzählen, und mit ihnen hätten die notleidenden Deutschen eine Lobby – in jeder Familie. Was die private, authentische Erinnerung im Vergleich zur trocken-didaktisch daherkommenden offiziellen so gefährlich machte, sei ihre Einseitigkeit. Die Täter sind meist die anderen, die eigenen Taten bleiben oft unerzählt. Man faßt sich als Opfer des großen Verführers Hitlers, der Generalität, des Drills und Gehorsams der Zeit, des damaligen Nationalismus, des Bombenkriegs, des Mitläufertums, Opfer von Flucht und Vertreibung auf … es besteht in Deutschland weitestgehend Konsens, was man nun über das Dritte Reich und seine Vertreter zu denken hat – so daß kaum ein Angehöriger der älteren Generation zugibt, mal Feuer und Flamme für genau dieses Regime gewesen zu sein, und daß er zum Beispiel mit der Absicht in den Krieg gezogen ist „Polen zu versohlen“. Überall nur Opfer, Kriegskinder, Kriegerwitwen, Überlebende. In der „privaten“ Erinnerung tauchen sie selten bis nie auf, die zahllosen kleinen und weniger kleinen Unterstützer des Regimes, ohne die kein Zug nach Auschwitz gefahren, kein Nachbar verraten worden, kein Deserteur erschossen, keine Sophie Scholl verhaftet und kein jüdischer Schüler von der Schule geflogen wäre. Wovon diese Menschen nicht erzählen könnten, sei die Geschichte der Opfer des Nationalsozialismus. Was das private Erinnern auch nicht unbedingt leiste, seien kausale Zusammenhänge. Das private Gedächtnis lieferte Bilder, Gefühlseindrücke, aber nicht Analysen und Argumente. Warum wurde Breslau so zerstört? Warum verlief die Flucht von Millionen von Menschen so plötzlich, so wenig vorbereitet, so chaotisch? Dazu wird eine Großmutter ihrem Enkel eher mit inneren Momentaufnahmen antworten als mit politisch plausibler Argumentation. Obwohl die Lage schon Mitte Februar 1945 aussichtslos war, verweigerte General Niehoff die Kapitulation der Stadt Breslau – obgleich diese fast 600.000 Menschen viel Leid erspart und die bauhistorischen Schätze der Stadt zumindest weitgehend gerettet hätte. Aber Niehoff kapitulierte erst am 7. Mai – fünf Tage nach der Kapitulation der Reichshauptstadt. Es sei für die Jüngeren nicht immer einfach, sich zwischen gefühlsüberladenen, sehr subjektiven bruchstückhaften Erinnerungen von Verwandten und auf der anderen Seite eigentümlich abstrakten und in diagrammhafte Ferne gerückten „Lektionen“ (Lutz Niethammer) über das Dritte Reich einen Weg zwischen zu oft Gehörtem und zu lang Verschwiegenem zu bahnen.
In den letzten Jahren scheint sich die bislang im Kräftegleichgewicht befunden habende Parallelität von „offiziellem“ und „privatem“ Erinnern ins Wanken geraten zu sein: Natürlich fällt auch den Jüngeren die derzeitige Publikationsflut zu den Themen Zweiter Weltkrieg, Flucht und Vertreibung etc. auf. Dabei gibt es Romane und Sachbücher, die sich in sehr bemerkenswerter Weise mit der Aufarbeitung der Vergangenheit beschäftigen wie Christoph Heins Roman „Landnahme“ über den langen Weg der Integration von Flüchtlingen. Aber es werden auch plötzlich von bis dato als gemäßigt eingeschätzten Persönlichkeiten Formulierungen verwendet, die nichts Geringeres als eine Geschichtsumschreibung intendieren. Jörg Friedrich spricht in seinem Buch zwar nicht vom „Bombenholocaust“ wohl aber von den alliierten Piloten als „Einsatzgruppen“, von den Luftschutzbunkern als „Krematorien“ und den Bombenopfern als „Ausgerotteten“. Die sprachlichen Parallelen zur Judenvernichtung sind offensichtlich. Nur: Bei der die historische Entkontextualisierung seit jeher vorantreibenden NPD regt sich das öffentliche Gewissen, bei als „politisch korrekt“ eingestuften Personen wird dies als sanfter Rechtsruck akzeptiert. Und so konnten Thesen, die früher marginalisiert oder vom Bund der Vertriebenen besetzt wurden, in der Mitte der Gesellschaft Zustimmung finden. Und wenn zu Recht von „Ambivalenztoleranz“ (Micha Brumlik) gesprochen wird – also ein differenzierterer Blick auf Opfer und Täter eingefordert wird -, wird diese neue Perspektive stets auf deutsche Täter/Opfer angewandt. Man fragt sich, wo umgekehrt die Entzauberung des „bösen Russen“ bleibt: In der (westdeutschen) Großelterngeneration war stets von dem Russen die Rede – und nie von den 14 Millionen getöteten Zivilisten und nicht von der Belagerung Leningrads, bei der fast eine Million Menschen verhungerte.
Für viele Jüngere ist die derzeitige Präsenz der Themen Kriegsende und eigenes Leid natürlich eine Chance, noch einmal jenseits von Verschriftlichtem etwas hierzu in Erfahrung zu bringen. Man ist sich bewußt, daß es bald keine lebenden Repräsentanten der sogenannten Täter- oder Zeitzeugengeneration mehr geben wird. Die aufklärerische Haltung der 68er scheint die jüngere Generation in nüchternerer und zurückhaltenderer Form fortzusetzen, mit der Möglichkeit zu mehr Gelassenheit aufgrund des historischen Abstands. Einen alten Großvater und eine bettlägerige Großmutter greift man weniger frontal an als einen rüstigen Vater und eine vitale Mutter. Hinzu kommt, daß man sich von einem alten Menschen wenig Änderung der inneren Haltung verspricht und der „pädagogische Ansatz“ der 68er in bezug auf ihre Eltern hier von vornherein nicht mehr intendiert ist. Das hat weniger mit einem Mangel an Leidenschaft als mit einer gewissen pragmatischen Einsicht in die Realität zu tun.
Gleichzeitig kann die Selbstbezogenheit der Älteren auch verbittern: Für viele Jüngere ist es befremdlich, im gegenwärtigen „Opferdiskurs“ wenig Bezug auf gegenwärtige, aber aus der NS-Zeit direkt resultierende Probleme feststellen zu können. Über vielen Diskussionen von Kriegsteilnehmern oder -kindern schwebt ein Hauch von Weltfremdheit, man scheint sich nur mit den Jahren bis 1945 beschäftigen zu wollen. Dies wiederum mag individualpsychologisch als Aufarbeitung von erlittenen Traumata verdienstvoll sein, bei dem oft verlautbarten Anspruch auf eine gesamtgesellschaftliche Debatte vermißt man jedoch einiges: die Einbeziehung der Wahlergebnisse von Sachsen und Brandenburg, des unsicheren Lebens vieler Ausländer in Gegenden mit „national befreiten Zonen“ oder der Häufung antisemitischer Entgleisungen von hochkarätigen politischen Würdenträgern … Auch der Blick über den Tellerrand der eigenen Nation findet bei dieser Selbstbespiegelung oft nicht statt: Dabei ist das Datum des 8. 5. 1945 mit zwei zentralen „transnationalen“ Themen verknüpft: der erst nach 1989 wirklich näher erfahrbare Osten bzw. Westen Europas – je nach Perspektive – und das prekär gewordene Verhältnis Deutschlands zu den USA. Es liegt an den jetzt Jungen, die auf politischer Ebene eingeläuteten „guten nachbarschaftlichen Verhältnisse“ zu Ländern, die von Deutschland überfallen wurden, wie Polen und Tschechien/Slowakei, wirklich in lebendige Beziehungen umzugestalten. Was hier auf politischer Ebene proklamiert wird, muß noch in realiter als gelebte gemeinsame Erfahrung zwischen Menschen einer jüngeren Generation eingelöst werden.
Auch das Verhältnis zu den USA muß weitergestaltet werden: Ein junger Franzose mit antiamerikanischer Gesinnung steckt nie in dem gleichen Zwiespalt wie ein junger Deutscher, der weiß, daß die Amerikaner nicht nur fast eine halbe Millionen Tote und Verwundete zu beklagen hatten, um Hitler und das Dritte Reich mit zu besiegen, sondern auch, daß die USA das Immigrationsland schlechthin für Deutschlands ehemalige intellektuelle Elite gewesen sind und die Millionenstadt Berlin (West) über anderthalb Jahre aus der Luft versorgt haben. Wenn man dort aufgewachsen ist, weiß man dies besonders zu würdigen. Aber die amerikanische Alltagskultur unterscheidet sich dezidiert von der deutschen und europäischen, und viele Jüngere haben nach Jahren der Heroisierung amerikanischer Kultur-Exporte und fragloser Geringschätzung der deutschen Kultur / Tradition auch ein Interesse, sich von dieser Hegemonie zu emanzipieren. Mehr noch: Nicht nur die kulturelle und sprachliche, auch die politisch-militärische Dominanz der USA fordert erneut (wie schon in etwas anderer Form in Vietnamkriegszeiten) Widerspruch heraus. Natürlich profitieren auch hier rechte Gruppierungen vom Zeitgeist: So wie sie sich den Opferdiskurs zu eigen machten und ein Thema politisch instrumentalisierten, so ist die Neue Rechte auch hier mit ihrer Anti-Imperialismus-Kritik an die Modewelle Anti-Amerikanismus erstaunlich anschlußfähig. Bei jeder Anti-Bush-Demonstration kann man beobachten, welch seltsame Schulterschlüsse dort plötzlich stattfinden. In der sensiblen Gestaltung des Verhältnisses zu den USA liegt wahrscheinlich eine der Schlüsselaufgaben der Jüngeren: Sie sind es, die in Zukunft mit den kumulativen Folgen der jahrzehntelangen Bipolarität des Kalten Krieges umgehen müssen – und an die die Aufgabe, den Frieden in Europa zu bewahren und im Verhältnis zu den USA das richtige Maß an Kooperation und Selbstbehauptung zu finden, weitergegeben wird. All diese Themen impliziert das Datum 8. Mai 1945. Umso wichtiger ist es, diesen Tag nicht der Gegenseite zu überlassen.
Berlin, im Mai 2005