Die Welt, 4. April 2001
Für einen Touristen ist es schon erschütternd, plötzlich in Hiroshima zu stehen, einer Stadt, mit deren Namen er nichts anderes als den ersten Atombombenabwurf verbindet: Am 6. August 1945, um 8.15 Uhr, wurde das blühende Handelszentrum am pazifischen Ozean mit über 400.000 Einwohnern dem Erdboden gleichgemacht. Heute erinnert im Stadtbild nur noch der Friedenspark mit dem Atombomben-Dom an dieses Ereignis. Die Gesamtanlage aus Park und Dom verleiht in ihrer Schlichtheit und Strenge der tiefen Betroffenheit, die die meisten Besucher an diesem Ort empfinden, Ausdruck. Der Atombomben-Dom sieht ein wenig aus wie die Berliner Gedächtniskirche, in skelettierter Form.
Nach dem Bombenabwurf hatten Experten ein düsteres Bild von der Zukunft der Stadt gezeichnet: Die Region würde aufgrund der radioaktiven Strahlung erst in 90 Jahren wieder bewohnbar sein, mit Vegetation wäre nicht vor 75 Jahren zu rechnen. Doch – ähnlich wie in Tschernobyl, wo sich trotz Warnung von offizieller Seite auch einige Alteingesessene zur Wiederkehr entschieden – richteten sich die Überlebenden behelfsmäßig in den Trümmern ein, und die Geflüchteten kehrten in ihre Heimatstadt zurück. Heute, 56 Jahre nach der Katastrophe, leben über eine Million Menschen in Hiroshima! Die Stadt hat sich mit eleganten Einkaufsboulevards und schönen Straßencafés zum „Paris Japans“ gemausert, die Universität von Hiroshima genießt international einen guten Ruf. Vor der Meeresbucht liegt die kleine Insel Miyajima, die von der Atombombenexplosion unberührt geblieben ist. Für mich stellte sie eine der wunderbarsten Entdeckungen während meiner Ostasien-Reise dar: Während man durch Moos und Farn über die felsige Insel läuft, stößt man unerwartet auf kleine Tempel oder unter Felsplatten stehende Buddhastatuen; hin und wieder sieht man Steinfigurinen, denen gehäkelte knallbunte Kleidungsstücke umgelegt wurden: ein japanischer Opferbrauch. Neben den bekleideten Statuen finden sich vom Regen ausgewaschene Briefe, welche die Wünsche der Spender für ihr weiteres Leben beinhalten. Offenbar spielen diese Rituale auch noch für den modernen Japaner eine Rolle: die Jäckchen, Höschen und Mützen leuchten in Neonfarben durch den Nebel, für den Miyajima bekannt ist. Insgesamt hat ein Aufstieg auf den Miyajima, so heißt auch der Inselberg, etwas von einem magischen Weg voll steinerner Lehrmeister, bis man plötzlich und unerwartet einen an Romantik nicht zu überbietenden Ausblick auf weit verstreute Insel- und Felsengruppen im Pazifik hat. Kaum eine halbe Stunde Seeweg entfernt, ragt der Atombomben-Dom in den Himmel.