Kommentar für den RBB, Sendedatum: 10. Dezember 2007
Ich bin der Ansicht, daß Doris Lessing den Nobelpreis für Literatur zurecht erhält. Als Mitte Oktober die Entscheidung der schwedischen Akademie bekannt wurde, waren viele Stimmen zu hören, die Enttäuschung und Unverständnis zum Ausdruck brachten. Mißbilligend wurde gemunkelt, wieder einmal sei der Preis eher für eine korrekte Gesinnung als für ein herausragendes literarisches Werk vergeben worden. Lothar Müller monierte in der Süddeutsche Zeitung: „Nein, nach rein literarischen Kriterien kann diese Wahl nicht erfolgt sein.“ Übertroffen wurde er noch von Dennis Scheck (Literaturredakteur im Deutschlandfunk, Moderator des Büchermagazins „Druckfrisch“): „Politisch ist die Entscheidung zu begrüßen, weil hier eine Vorkämpferin des Feminismus und des Anti-Rassismus geehrt wird. Ästhetisch dagegen ist es eher eine Pleite.“ Marcel Reich-Ranicki brauche ich gar nicht erst zu zitieren. Alle Genannten scheinen bedauerlicherweise die Vergabekriterien des Nobelpreises nicht zu kennen. Der schwedische Erfinder und Industrielle Alfred Nobel legte in seinem Testament fest, daß in der Kategorie Literatur der Preis an denjenigen vergeben wird, „der in der Literatur das Herausragendste in idealistischer Richtung produziert hat“.
Die Stockholmer Juroren sind nicht einfach hoffnungslose Gutmenschen, die gar nicht anders können als unermüdlich Autoren mit gesellschaftskritischem und idealistischem Anspruch wie Heinrich Böll, Elfriede Jelinek, Vidiadhar Surajprasad Naipaul oder nun Doris Lessing auszuzeichnen, es ist einfach ihre Aufgabe, die sie ungeachtet meuternder Kritiker offenbar sehr ernst nehmen.
Immer wieder wird fälschlicherweise davon ausgegangen, dass der Nobelpreis an den „besten“ Autor (oder das „beste“ Werk) weltweit verliehen wird. Solch einen anmaßenden Anspruch hatte Alfred Nobel jedoch nicht. Es ging ihm nicht um das weltweit „beste“ Buch, sondern um die Auszeichnung eines Werks unter einem spezifischen Gesichtspunkt: eben dem Herausragendsten in idealistischer Richtung.
Vermutlich lässt sich das seit Jahren anschwellende Gemeuter der Kritiker darauf zurückführen, dass idealistische Richtungen in der Kunst gerade nicht sehr hoch im Kurs stehen. Man denkt dabei immer noch an die Betroffenheitslyrik der siebziger und achtziger Jahre; an Gedichte, in denen Atomkraftwerke, Risse im Asphalt, zarte Blumen und viele Regentropfen/Tränen vorkamen. Auch die Prosa jener Jahre rankte sich bisweilen um solche Erscheinungen. Und diese poetischen Verstrahlungen haben alle idealistischen Herangehensweisen an Literatur in Kritikerkreisen und zum Teil auch in der breiten Öffentlichkeit diskreditiert. Aber das Kind ist mit dem Bade ausgeschüttet worden; es gibt auch gute idealistische Werke. Und die werden Jahr für Jahr ausgewählt und mit Alfred Nobels Preis geehrt.
Davon abgesehen: Die Idee, literarische Werke, die im Original in allen existierenden Sprachen geschrieben sein können, lediglich nach ihrer Übersetzung beurteilen zu wollen, ist an sich ein idealistisches Unterfangen. Es dürfte schwierig sein, in einer Fremdsprache das Herausragendste in stilistischer Hinsicht beurteilen zu wollen.