Die Welt, 8. Mai 2005
Ein fixes Datum wie der 8. Mai 1945 suggeriert immer eine abgeschlossene historische Epoche und legt den Gedanken an einen „Schlußstrich“ nahe. Auf die Frage, was der 8. Mai für sie bedeute, würden viele Jüngere sicher eine andere Antwort geben als auf die Frage, ob die Folgen des Zweiten Weltkriegs für sie in ihrem Alltag, in ihrer Ausbildung, in ihren Kontakten zu Menschen anderer Herkunft und auf Reisen noch heute spürbar sind. Denn die oftmals von Älteren gehegte Vorstellung, daß der 8. Mai für jüngere Bürger „kein Thema“ mehr sei, ist geradezu absurd: Die Lebenswelt der Jüngeren ist von keinem Ereignis auch nur annähernd so geprägt wie vom Zweiten Weltkrieg, von seinem Ende und seinen Folgen. Ein Blick auf die Straße, ein Blick ins Familienalbum, ein Gespräch mit Verwandten und eine Auslandsreise reichen, um diese Thematik monolithisch aufragen zu lassen. Es scheint mir, daß die ältere Generation es sich mit der Behauptung, den Enkeln würde es ja so viel besser gehen, etwas einfach macht. Davon abgesehen, daß es müßig ist, einen Pokal im Leiden gewinnen zu wollen, wird oft unterschätzt, daß materieller Wohlstand – wie im Nachkriegswestdeutschland – nicht allein selig machend ist. Für viele Ältere ist wohl wenig nachvollziehbar, daß jüngere Menschen mit den Konsequenzen des Zweiten Weltkriegs auf eine Weise konfrontiert sind, die gerade wegen der nicht vorhandenen authentischen Erfahrungen ihre eigene Dramatik besitzt. Vielleicht die Dramatik des Spuks, zumindest die Kalamität des beunruhigend Geisterhaften: Man kann – wie ich als Kind in den siebziger Jahren – so absurde Tatsachen wie die Teilung der Heimatstadt mitten durch Straßenzüge nur konstatieren, aber es bestehen keine Erinnerungen an die Zeit vor der Mauer oder an den Mauerbau selber, die das Vorstellungsvermögen erleichterten.
In bezug auf die heutige „jüngere Generation“ muß man jedoch zwischen verschiedenen Altersstufen differenzieren: Die jetzt ungefähr 30- bis 45jährigen sind noch mit den Ausläufern des 68er Gesellschaftsprojekts aufgewachsen. Dieses Ideengut verlor an Popularität und Wirkungskraft, war aber noch bis Mitte der achtziger Jahre hinein ein breiter schichtübergreifender Konsens. Zu den auf die Jüngeren noch nachhaltig abfärbenden Ideen der 68er gehörte natürlich nicht nur die Abkehr vom Nationalismus, sondern auch von so etwas wie Heimatliebe. In den letzten Jahren hat nun aber eine gesamtgesellschaftliche Gegenbewegung zum Ideologien-Konglomerat der 68er stattgefunden, das man nur unzureichend mit populärsoziologischen Begriffen wie „Roll back“ oder „Backlash“ belegen kann, denn Geschichte wiederholt sich nicht: Mit der Verabschiedung des Ideenguts der 68er fand gerade für die Jüngeren und die ganz Jungen ein Paradigmenwechsel statt. Während die Älteren sich oftmals aus ganz persönlichen Gründen von einem zeitgeistverhafteten Habitus der 68er lossagen wollten, war die Wirkung dieses tiefgreifenden Wertewechsels auf Teile der jüngeren Generation nicht ganz absehbar gewesen. Die ganz Jungen in Deutschland haben nämlich nun auf eine frappierende Weise ein „unverkrampftes“ Bild von Deutschland, das sowohl den in der gesellschaftlichen Mitte angelangten Ex-68ern entgegenkommt, als auch zunehmend affin zu den Ideologien der Neuen Rechten ist. Da singt die Berliner Erfolgsband Mia in schwarz-rot-goldenem Outfit die Zeilen „Fragt man mich jetzt, woher ich komme, tu ich mir nicht mehr selber leid“, Jugendmagazine schwingen sich plötzlich auf, „die deutsche Selbstverleugnung“ zu geißeln, Reiseveranstalter werben lässig mit pinkfarbener Graffiti-Schrift „Deutschland, wach auf!“ für Billighotels, und rechte Klamottenlabel wie „Thor Steinar“, „Patriot“, „Werwolf“, „Walhalla“ und „Masterrace“ mit Aufdrucken wie „100 % White“ oder „Wächter der Heimat“ sprießen aus dem Boden.
Tatsächlich hat nach „1968“ in Deutschland bislang keine Generation mehr Visionen von einem gesellschaftlichen Gegenmodell entwickelt. So wie die Generation, die jetzt noch an den sprichtwörtlichen Schaltstellen der Macht sitzt, die Debatte des Opferdiskurses mit all den hierbei implizierten Nebenthemen angeführt hat, so ist auch das sogenannte 68er-Bashing interessanterweise ein Angriff aus den eigenen Reihen (namhafte Vertreter wie Jörg Friedrich, Peter Schneider und Martin Walser sind ehemalige Linke) und nur in weitaus geringerem Maße von den Jüngeren, den Kindern der 68er, lanciert worden. Die sind im großen und ganzen recht zufrieden mit ihren Eltern und spotten nur über gewisse ästhetische Entgleisungen. Selten hat es eine so geringe Auflehnung gegen die Älteren gegeben wie bei den Kindern der 68er. Ihre „Revolte“ bestand ja gerade darin, kein „Programm“ zu haben und „ignorant“ zu sein.
Schuld an der neuen politischen Unbedarftheit der ganz Jungen, die in manchen Regionen bei den Wahlen eher für die Rechtsextremen als für eine gemäßigt-bürgerliche Partei wie die Grünen stimmen, haben natürlich auch die 30- bis 45jährigen selber – die Angehörigen der politischen „Sandwich-Generation“, die keine eigene gesellschaftspolitische Vision hervorgebracht hat außer „Friede, Freude, Eierkuchen“ (Love-Parade-Motto von Dr. Motte in den Mittneunzigern). Was diese Generation gesellschaftspolitisch statuiert hat, ist eine Art grelles Biedermeier: ein Biedermeier, das selbstverständlich keine Schwulen, Lesben, Polygamen etc ausgrenzt, also kein sexuelles Biedermeier wie in den fünfziger Jahren, auch kein ethnisches, das Ausländerfeindlichkeit propagiert, aber dennoch – bei allen lärmenden, bunten und hedonistisch-experimentellen Aspekten – eines des enorm verengten Blickfeldes: Privatismus und Stagnation. Diese an sich harmlose Generation hat das individuell Verschiedene, Schlaglichtartige in Abgrenzung zum penetranten Wir-Gefühl der Älteren geradezu zum neuen Kult erhoben und politische, also die Allgemeinheit betreffende Fragen weitgehend unbeantwortet gelassen. Dadurch hat sich hier ein Vakuum für die noch Jüngeren, denen zunehmend der ethisch-moralische Background der 68er-geschulten pc-Partygänger der Achtziger und Neunziger fehlt, aufgetan. Für viele der 30- bis 45jährigen war die innere Orientierung an einem humanistisch-demokratischen Grundverständnis einfach selbstverständlich; es wurde aber nicht als etwas verstanden, das immer wieder neu erarbeitet und erkämpft werden muß. Daß in Deutschland einmal mehr Angst vor den Rechten auf der 8. Mai-Demonstration als vor den Linken am 1. Mai herrschen würde, hätte wohl niemand gedacht. Doch nachdem das linke Spektrum (Stichwort: die Grünen) weitgehend in den Mainstream integriert wurde, bedeutet „radikal“ heutzutage – zumindest in einigen Regionen -, rechts zu sein. Die ausgesprochen junge Anhängerschaft der Parteien rechtsaußen belegt dies.
Hinzu kommt die schwierige wirtschaftliche Lage und die allgemeine Visionslosigkeit auch der Älteren, die als Antwort einmal um so radikalere gesellschaftliche Entwürfe entstehen lassen könnte. Die jetzt Jungen werden die erste Generation nach dem Krieg sein, die weniger als ihre Eltern verdient. Dies ist in der bundesrepublikanischen Geschichte (die DDR ist natürlich anders zu beurteilen) einmalig. Auch dies läßt in den Jungen den Wunsch nach Diskontinuität mit dem vermeintlich verbrauchten Modell der sozial ausgerichteten heterogen-toleranten Gesellschaft aufkeimen. Aus diesem komplexen und abgründigen Stimmungsbild heraus könnte nach Weizsäckers Bezeichnung des Kriegsendes als Befreiung (1985) nun eine Neueinschätzung des 8. Mai 1945 als Niederlage folgen.