Warum die „Enkelgeneration“ nach dem Zweiten Weltkrieg noch nicht zum „entspannten Umgang“ mit der Vergangenheit geneigt ist.
Süddeutsche Zeitung, 27./28. April 2002
Mit der Wiedervereinigung Deutschlands und dem Versuch, zu einem supranationalen europäischen Staatengefüge zu gelangen, wurden historische Zäsuren gesetzt und die Nachkriegszeit wurde mit dem Mauerfall für beendet erklärt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat man in Deutschland ein starkes Bedürfnis nach Imagewechsel: Man möchte in Europa eine Hegemonialrolle spielen und sich wieder in weißer Weste präsentieren. Man ist es leid, als historisches Negativbeispiel, als unübertroffenes Extrem herhalten zu müssen. Viele Deutsche empfinden die Geschichte ihres Landes nun als ihnen ungerechtfertigt aufgebürdete Last, beklagen sich allen Ernstes darüber, daß sie gelegentlich „Schuldgefühle“ haben und zu oft in den vergangenen Dekaden das Wort „Vergangenheitsbewältigung“ haben hören müssen … Soll man nun in Bedauern ausbrechen über die, denen man die Last des Sich-Gelegentlich-Schlecht-Fühlens nicht abnehmen kann? „Die Vorstellung von der Möglichkeit und Notwendigkeit der Vergangenheitsbewältigung enthält nicht nur die Sehnsucht nach der Freiheit von der Vergangenheit, sondern stützt sogar einen Anspruch darauf. Wie bei jeder Aufgabe erwartet auch hier, wer tüchtig arbeitet, dass die Aufgabe schließlich erledigt ist, und beansprucht, an der einmal bewältigten Aufgabe nicht mehr festgehalten zu werden“, konstatierte Bernhard Schlink ironisch im SPIEGEL.
Von „meiner“ Generation versprechen sich einige Ältere den lang erhofften „unbefangenen Umgang“ mit der Vergangenheit. Günter Grass, der nicht der erste, sondern der bekannteste Kulturschaffende ist, der sich mit dem Thema „Flucht und Vertreibung“ beschäftigt, hat die soziopolitische Gunst der Stunde erkannt und seinen „Rückwärtsgang“ auf fruchtbarem Boden eingelegt. Es ist natürlich kein Zufall, daß wieder über die Beneš-Dekrete gesprochen wird und ehemalige Wehrmachtsangehörige in Österreich eine „Entschädigung“ erhalten.
Die, die endlich entlastet werden wollen von ihrem eigenen Gewissen und sich im neuem Lichte sehen wollen, sind nicht nur diejenigen, die auf unterschiedliche Weise als kleine Zuträger des Machtapparats der Nazis fungierten oder gar in Kriegsverbrechen und Genozid verwickelt waren, sondern auch die, die nach dem Krieg dafür sorgten, daß Täter nicht belangt wurden und sogar Karriere machen konnten. Und das sind viele. Wer behauptet, daß in Deutschland jahrzehntelang im öffentlichen Diskurs immer nur gebetsmühlenartig über Schuld und Verbrechen gesprochen wurde, übersieht, daß zeitgleich NS-Ärzte, -Richter etc. ein kommodes Dasein führten. Diese Diskrepanz hat 1968 – auch wenn Autoren wie Peter Schneider in ihren jüngsten Artikeln diese Leistung nicht mehr zu würdigen wissen – einige junge Leute zu Recht aufgebracht. Die 68er haben einen wichtigen Beitrag zur Vergangenheitsreflektion der Deutschen geleistet, indem sie die Kriegsgeneration befragten, herausforderten und zum Reden brachten.
Die Aufarbeitung eines Krieges und Völkermords, die zusammengenommen 60 Millionen Menschen das Leben und weiteren 50 Millionen Menschen die Heimat gekostet hat, dauert wahrscheinlich länger als ein halbes Jahrhundert. Der Anspruch, jetzt von der Vergangenheit Abschied nehmen zu können, „einen anderen Umgang“ öffentlich einläuten zu können, kann noch nicht eingelöst werden. Wer sich darüber beschwert („die Ausschwitzkeule“), versteht nichts von Psychologie: Traumata währen lang – ein kollektives Trauma dieser Größenordnung ist nicht in einer oder zwei Generationen „weggeredet“ und mit Gedenktafeln und musealen KZ abgegolten. Daß heutzutage immer noch, im Feuilleton oder auf der Straße, Antisemitismus mit Antizionismus gleichgesetzt oder verwechselt wird, deutet doch schwerwiegende Defizite an.
Ich habe den Eindruck, daß in „meiner“ Generation, so heterogen sie auch ist, das Unverständnis gegenüber den Greueltaten des NS-Regimes und seiner Mitläufer wächst und nicht abnimmt. Die dritte Generation nach dem Krieg ist in einer von Pluralität und Multikulturalismus geprägten Zeit aufgewachsen – ein Austauschjahr, ein Au-Pair-Aufenthalt, Reisen in ferne Länder sowie das Erlernen von Fremdsprachen und natürlich der Genuß exotischer Speisen gehören heutzutage nicht mehr nur in „begüterten Familien“ fast selbstverständlich zum Lebensstil. Private Mobilität und ökonomische Globalität haben eine neue kulturelle Vermischung hervorgebracht – auch der „rechte Jugendliche“ ißt selbstverständlich beim Griechen, beim Italiener, lernt Englisch, surft in Antalya etc. – mit der Folge, daß Begriffe, die in den dreißiger Jahren zum Alltag gehörendes Bürokratenvokabular darstellten wie „Blutsreinheit“, „Deutsches Blutschutzgesetz“, „Rassereinheit“ etc. heutzutage wesentlich mehr irritieren als damals. Sie wirken grotesk, zwangsneurotisch, pathologisch. Einen Vernichtungskrieg um „Lebensraum“ zu führen oder gar ein anderes Volk ausrotten zu wollen ist wohl in Deutschland noch nie einer Generation gedanklich so fern gewesen wie der „meinen“.
Einige soziologische Implikationen sprechen auch indirekt für meine These: Aus der SHELL-Studie „Jugend 2000“ geht hervor, daß das Deutschlandbild – dies war ein Themenschwerpunkt der Befragung – „unaufgeregt und frei von jedweder Überhöhung“ sei. Als „nüchtern und eher kritisch“ bezeichnen die Autoren die Haltung der Befragten gegenüber ihrer Heimat. Ein „Hurrapatriotismus“ besäße keine nennenswerte Anziehungskraft für die jungen Deutschen. Diese Schlußfolgerungen treffen auf die Majorität der jungen Deutschen zu und bedeuten nicht, daß Minoritäten nicht auch mit einem „überhöhten Deutschlandbild“ liebäugelten.
Es läßt sich unschwer leugnen, daß noch in den fünfziger und sechziger Jahren ein breites Verständnis für nazistisches Gedankengut vorhanden war. Auf westdeutschen Schulhöfen wurden diejenigen verspottet, deren Vater Deserteur war oder wegen „Feigheit vorm Feind“ vors Kriegsgericht kam – heutzutage kaum vorstellbar. Die gesamte Nazi-Terminologie lag noch in der Luft, wurde verstanden. Erst in den letzten Dekaden entwickelte sich ein gesamtgesellschaftliches Klima, in dem Begriffe wie „Blutsreinheit“ vollkommen deplaziert wirkten. Vielleicht wird solch ein Begriff in zwanzig Jahren schlicht nicht mehr verstanden werden.
Mit der zunehmenden Betonung von Individualismus, Selbstbestimmung und weniger starren gesellschaftlichen Vorschriften für „korrektes“ Verhalten wuchs in den letzten dreißig Jahren auch das Unverständnis gegenüber dem Gehorsam der Deutschen, der vor ebenso unsinnigen wie grausamen Mordbefehlen nicht halt machte.
Wie in vielen diesbezüglichen Publikationen und auch in der revidierten Wehrmachtausstellung evident wurde, gab es zum Beispiel für Wehrmachtssoldaten oft durchaus einen gewissen Handlungsspielraum. Keineswegs stand auf Befehlsverweigerung der Tod – schon gar nicht in den ersten Kriegsjahren.
Zurück zu „meiner“ Generation: Eine Form von Gehorsam nachzuvollziehen, die gemeinhin anerkannte, christlich verankerte Normen (das fünfte Gebot) einfach übergeht, fällt einer Generation, die sich durch einen hohen Grad an Selbstbestimmung und Handlungsfreiheit auszeichnet, wesentlich schwerer als den vorausgegangenen. Daß der auf den „Führer“ geleistete Eid tatsächlich auch für viele nicht mit den Nazis sympathisierenden Soldaten bis zuletzt eine hohe Bindungskraft besaß, auch wenn sie überzeugt waren, einen sinnlosen Krieg zu führen und ihr Leben aufs Spiel zu setzen, ist für viele Jüngere ein kaum mehr nachvollziehbares Phänomen: leben sie doch in einer Zeit, in der das blinde Vertrauen in Autoritätspersonen stark erschüttert wurde, nicht zuletzt durch Erfahrungen wie die mit der NS-Diktatur. Jedes Kind wächst heutzutage selbstverständlich mit Nachrichten über eidbrüchige Politiker auf. Überindividuelle Interessenvertretungen haben immer weniger Einfluß auf den einzelnen – den großen Parteien „vertrauen“ in Deutschland nach neuesten SPIEGEL-Zahlen nur noch 10% der Bevölkerung.
Zu begreifen, daß intelligente Menschen lieber erschossen als fahnenflüchtig werden, fällt Mitgliedern einer Generation, die man zu Recht als „hedonistisch“ bezeichnet hat, sehr schwer. Was es bedeutet, aus einer Monarchie entlassen zu werden und demokratisches Denken erst einmal einüben zu müssen, ist ebenfalls für „meine“ Generation kaum nachvollziehbar. Wir haben doch schon im Alter von zehn Jahren, ohne mit der Wimper zu zucken, unseren Klassensprecher abgewählt, wenn er nicht durchsetzen kann, daß die Klassenfahrt nach Florenz statt in den Schwarzwald geht. Wie sollen wir Verständnis dafür aufbringen können, daß ein gestandener Mann zweitausend Frauen und Kinder an einem einzigen Tag erschießt (Hunderttausende von Russen, Polen, Juden wurden in solchen „Einzelinitiativen“ vor dem eigentlichen Holocaust umgebracht), um „keinen Anschiß vom Chef“ zu bekommen“?
Daß die Deutschen auch Opfer des Krieges wurden und ihnen Unrecht geschah (wie beim Untergang des ehemaligen KdF-Schiffs „Wilhelm Gustloff“ oder bei der Bombardierung des mit Flüchtlingen – in erster Linie Frauen und Kindern – überfüllten Dresden), liegt auf der Hand und kann durchaus Stoff für einen gesellschaftlichen Diskurs sein – wenn der Kontext mitreflektiert wird. Aber im neuen deutschen Opferdiskurs wird manches gern übersehen: Zum Beispiel die Tatsache, daß die Gustloff in den späten Kriegstagen Tarnanstrich trug, somit visuell als Kriegsschiff wahrgenommen wurde, und auch noch einige Flaks an Deck installiert hatte. Darüber hinaus waren 918 Offiziere und Mannschaften der 2. ULD an Bord – also keineswegs nur Zivilisten. Der Transport von 162 schwerstverwundeten Soldaten dürfte die Russen nicht zur Nachsicht bewogen haben: Wehrmachtssoldaten erschossen auf den langen Märschen in die Kriegsgefangenschaft einfach die erschöpften oder verwundeten Soldaten der Roten Armee, ihre Leichen säumten den Wegesrand der Marschroute.
Überdies geraten die Proportionen im derzeitigen Diskurs etwas aus den Fugen: Über die neuntausend Opfer der Gustloff wird mehr nachgedacht, als über sieben Millionen russische Zivilisten, die durch deutsche Hand ihr Leben verloren. Ich glaube kaum, daß der heutige Zeitungsleser wirklich weiß, daß vierzehnmal so viele russische Zivilisten ums Leben kamen wie deutsche! (deutsche und russische Opfer durch Vertreibung auf beiden Seiten nicht mitgerechnet).
Daß nun die Hoffnung aufgekommen ist, „meine“ Generation wolle oder könne ein Plädoyer für einen „unbefangenen Umgang“ mit der Vergangenheit einlegen, wundert mich. Da wünschen sich einige der Älteren, wie mir scheint, nur Schuld-Lossprechung von den Jüngeren, und dafür gibt es weder jetzt noch irgendwann in ferner Zukunft einen Grund. Denn: Mich interessiert immer noch und immer wieder, „wie und warum ein politisches System in seiner ganzen Komplexität innerhalb einer Zeitspanne von weniger als zehn Jahren (d.h. bis zur Wannseekonferenz, T. D.) so korrumpiert werden kann, daß es die Durchführung eines Völkermordes als eine seiner Hauptaufgaben betrachtet“ (Ian Kershaw).
Mich interessiert auch: Wie konnten die Bewohner eines Landes, das nun meint, den kritischen Blick in die Vergangenheit nicht mehr nötig zu haben, schon 1990 beim Anblick von Autokolonnen aus Polen wieder menschenverachtende Äußerungen tätigen, nachdem im Zweiten Weltkrieg sechs Millionen Polen von den Deutschen umgebracht und ihre Städte verwüstet wurden?
Was zu hoffen bleibt, ist jedoch folgendes: Daß in „meiner“ Generation die Reflektion über die Vergangenheit nüchterner, objektiver, besonnener geführt wird.
Daß haßerfüllte Vorwürfe an die Elterngeneration – wie noch von den 68ern in verständlicher, aber nicht immer der Erkenntnis oder dem Dialog dienlicher Emotionalität vorgebracht – ebenso wie die nicht enden wollenden selbstmitleidigen Rechtfertigungsrituale der Älteren – von uns weniger oft lanciert oder provoziert werden. Bücher wie Marcel Beyers „Flughunde“, Lena Kuglers „Wie viele Züge“ oder Per Jendryschiks Erzählung über seltsame Ratespiele von Ghettokindern mögen Beispiele hierfür abgeben.
Mir scheint, uns fällt eine große Rolle zu im Verständnis und der „Aufarbeitung“ der Vergangenheit, da wir die erste Generation darstellen, die nicht direkt selbst oder noch angrenzend direkt durch die eigenen Eltern beteiligt sind. Es ist ein Unterschied, ob der Großvater, den man dreimal im Jahr besucht, Kriegsinvalide ist, oder der eigene Vater. Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man als Kind jahrelang Bombenangriffe ertragen hat oder ob man diese Erlebnisse nur aus Erzählungen kennt. In einem Interview* benutzte ich den Begriff des „familiären Nachbebens“, das „meine“ Generation noch wahrnimmt, aber ein Nachbeben ist eben keine Flutwelle.
Dennoch würde ich diesen aufgrund der historischen Distanz nun möglichen Umgang jedoch nicht als „unbefangen“ bezeichnen.
Wir – ich möchte nicht auf vereinnahmende Weise „wir“ sagen und meine: einige, die sich mit diesem Sujet auseinandersetzen wollen – gehören zur ersten Generation, die sich durch die geringere emotionale Beteiligung mit größerer Objektivität, mit größerer geistiger Freiheit der Analyse der NS-Zeit und ihren Folgen widmen kann. Ich hoffe und glaube, daß „meine“ Altersgenossen sich weniger von Werken im Stile des sentimentalen Films „Schindlers Liste“ oder der Plakativität der Holocaust-TV-Serie beeindrucken lassen, sondern sich vielmehr für die strukturellen Aspekte des labyrinthhaften Kolosses des NS-Regimes interessieren, dessen Disbalance zwischen Ordnung und Chaos, zwischen Machtdelegation und Machtakkumulation, zwischen Größenwahn und Selbstverachtung noch weiterhin viele Fragen aufwirft.