„Squaws“, deutsch-polnisches Frauen-Kulturmagazin, Mai/Juni 2005
Małgorzata trägt trotz der sommerlichen Temperaturen ein schwarzes langärmeliges Kleid, schwarze Schuhe und eine schwarze, mit Perlen bestickte Kappe auf dem Kopf. An einer Leine hält sie ihren Dackel Pionek. Sie trage immer noch Trauer erklärt sie mir, wegen Karol Wojtyła. In ihrem Wohnzimmer hänge ein Bild von ihm. Aber wir Deutschen würden das sicher nicht verstehen. Wir hätten ja gar nicht richtig gefeiert, als der neue Papst gewählt wurde. Das kann sie einfach nicht begreifen.
Dann erzählt sie, daß sie aus einem kleinen Dorf in der Hohen Tatra bei Zakopane stammt. Elf Geschwister habe sie. Von denen lebten nur noch drei. Sie selber ist 81 Jahre alt. Aufgewachsen ist sie in einem kleinen Häuschen in den Bergen, in dem es ein von der Feuerstelle rußgeschwärztes Zimmer gab. In diesem Zimmer kochte man, schlief, musizierte, nähte, machte Schulaufgaben, spielte … Das andere – größere – Zimmer war weiß und fast leer. In ihm befanden sich der Hausaltar, einige Heiligenbilder und die schönen Ausgehkleider der Familie für Kirchenbesuche und große Feste. Niemand wäre, trotz des Platzmangels, auf die Idee gekommen, im weißen Zimmer zu nähen, Gemüse zu schneiden, zu lesen oder zu schlafen. Wenn ein Familienmitglied starb, wurde es hier einen Tag lang aufgebahrt, um noch „Gottes ganzen Segen“ mitzunehmen. Małgorzata lächelt, man sieht ihr die tiefe Zufriedenheit an, mit der sie sich an diese Zeit erinnert. Aber jetzt muß sie weiter, Kaffeetrinken mit einer Freundin. In ihren Händen hält sie einen in Klarsichtfolie eingepackten Kuchen; es ist dieser pinkfarbene, zuckerwatteartige, der einem die Plomben aus den Zähnen zieht, sich aber hier in Podgórze, dem Außenbezirk Krakaus mit den niedrigen Häuschen und den bemerkenswert vielen Dackeln, besonderer Beliebtheit erfreut. Man versucht hier, möglichst normal zu leben, was immer das auch heißt. In Podgórze war früher das jüdische Ghetto – nicht, wie die meisten Touristen vermuten, in Kazimierz, dem jüdischen Viertel. Aus Kazimierz wurden die Juden vor die Tore der Stadt und auf das andere Weichselufer getrieben. Małgorzata lebt schon über fünfzig Jahre hier. „Nach Podgórze kommen nicht viele Touristen“, sagt sie, „die gehen nur einmal über den Ghettoplatz und wieder zurück in die Altstadt.“
Aus ihrem Mund klingt das Wort „Altstadt“ nicht nach etwas Verheißungsvollem. Als ein Trupp junger Polen an ihr vorbeiläuft und sie anrempelt, wird die schwarzgekleidete Dame laut: „Schrecklich, diese Leute! Arrogant sind die! Wir hier in Podgórze, wir sind eben noch tierlieb, wir haben noch Herz! Aber die von da drüben … dekadent sind sie, neureich, westlich, seelenlos!“
Welches Adjektiv fehlt noch? „Und auch nicht mehr fromm!“ Sprichts und zuckelt von dannen.
* * *
Olga wohnt in Nowa Huta, der einstigen Stahlhüttenstadt Krakaus. In den achtziger Jahren lebten noch über 200. 000 Menschen hier. Fast eine Viertelmillion Einwohner in Häusern, die alle gleich aussehen, stalinistische Zuckerbäckerbauten, Arbeiterpaläste. Es ist sonnig heute, Kinder planschen an Springbrunnen, Eltern sitzen Burger essend auf Parkbänken. Daß die Luft mal grau vom Staub war und Atemwegserkrankungen eine der häufigsten Todesursachen waren, kann man sich kaum mehr vorstellen. Olga ißt jetzt ihren zweiten Burger. Sie liebt den Doppelwhopper einfach, nur um ihre Figur macht sie sich ein wenig Sorgen. Aus ihrer Einkaufstasche lugt eine Frauenzeitschrift. Ich hätte Olga für älter gehalten, ihre Haare sind schreiend kupferrot gefärbt, ihre Haut ist blaß, die Augen sind umschattet. Sie ist erst 46 Jahre alt und hat schon einen 26jährigen Sohn und 18jährige Zwillinge.
Ich frage sie nach ihrer Arbeit in der Stahlhütte. Nein, da habe sie nicht gearbeitet, sie war in der Textilindustrie tätig. Was sie dort genau gemacht habe? Olga macht eine wegwerfende Handbewegung; darüber will sie nicht reden. Mir fällt auf, was für kräftige Hände Olga trotz ihrer zierlichen Figur hat.
Wir schlendern auf einer breiten Promenade zwischen den stalinistischen Bauten: Reklametafeln mit klobigen Plastikbuchstaben, matte, ausgeblichene Farben, Kleidung wird in nach Chemie riechenden Holzimitatkisten verkauft, Büroartikel einzeln auf riesigen Plastikplanen im Schaufenster feilgeboten. Olga kauft einen Mini-Wecker und hantiert eine Weile lang an dem Ding herum.
Ob sie fände, daß Frauen zu Zeiten des kommunistischen Regimes gleichberechtigt leben und arbeiten konnten, will ich wissen.
Olga schüttelt den Kopf. „Wir mußten ja arbeiten und die Kinder und den Haushalt machen. Józefs und meine Arbeitsteilung sah so aus: Ich kaufte das Bier, er trank es.“ Aber der sei jetzt tot, und drum sei’s auch egal. Besonders traurig klingt das nicht.
Was ihr persönlicher Traum sei, möchte ich noch wissen. Olga überlegt. Dann sagt sie, daß sie gern einmal nach New York fliegen möchte. Sie liebt Hochhäuser und Jazzmusik. Ja, das wäre ihr persönlicher Traum. Sie wäre gern vor dem 11. September in den USA gewesen, da wäre das Land ihr noch so rein und unverletzt vorgekommen. Rein, unverletzt? So redet ein Mensch, der jahrzehntelang kommunistischer Propaganda ausgesetzt war? „Die USA sind für mich ein sehr gutes Land, ein sehr junges, mit einer sehr wenig blutigen Geschichte“, sagt Olga, und man traut seinen Ohren nicht. „Ich meine im Vergleich zu Europa“, fügt sie hinzu. „Die Amerikaner sind die einzigen, die wirklich für Frieden und Freiheit kämpfen. Sie sind die Helden der Gegenwart. Bush ist mein Idol nach Karol Wojtyła.“ Sie hört jetzt gar nicht mehr auf zu reden. „Der Papst hat uns stolz gemacht. Er ist unser Nationalheld“, sagt Olga. „Unser Größter.“
Daß der Papst in Rom einer Weltkirche vorgestanden hat, scheint in ihren Worten nicht auf. Vermutlich hätte Olga den Papst in einer Uniform noch überzeugender gefunden.
* * *
Anna kommt gerade aus Berlin zurück, als wir uns in einem Café am Rynek, dem zentralen Marktplatz in Krakau, treffen. Ihr Deutsch ist sehr gut, sie studiert an der Humboldt-Universität. Vorher war sie an der Sorbonne in Paris. Anna trägt kurze Haare, eine interessante Brille und einen gutsitzenden smaragdgrünen Cord-Anzug. Modisch, aber nicht aufgedonnert wirkt sie – und strahlt so viel Tatendrang und Intelligenz aus, daß man nicht umhinkann, von ihr fasziniert zu sein. Sie macht keinen Smalltalk, innerhalb von Minuten reden wir über Europa-Politik, das deutsch-polnische Verhältnis, das schwierige Vermächtnis der Vergangenheit.
„Wir müssen noch viel nachholen in Polen, finde ich. In Deutschland ist viel aufgearbeitet worden – das sind nicht alle nur Erika Steinbachs, wie hier manchmal gesagt wird. Aber wir Polen können auch nicht nur die Opferrolle einnehmen. Es gab Leute, die die Juden den Nazis ausgeliefert haben. Das weiß jeder, aber es ist noch nicht genug darüber gesprochen worden. Es wird immer noch alles den Deutschen angelastet. Die übertreffen alle anderen Völker an Böswilligkeit und Grausamkeit in solch einem Maße, daß keine andere Nation mehr über ihre eigenen Fehler nachdenken muß. Das ist ein Problem.“
Mit der jüngsten meiner Gesprächspartnerinnen unterhalte ich mich am längsten; über die deutsch-polnische Geschichte, über die Besetzung Polens und über die Judenvernichtung – vielleicht weil es die Jungen sind, die reisen, im Ausland studieren, Fremdsprachen lernen und sich daher über ihre Identität und das Verhältnis zu den Nachbarstaaten in besonderem Maße Gedanken machen.
„Zu kommunistischen Zeiten, da gab es natürlich auch einen Haufen Leute, die vom Regime profitiert, die es gestützt haben. Da brauche ich nur an meine Tante zu denken. Immer in der ersten Reihe. Die ist jetzt ziemlich … unsichtbar geworden. Wir haben zuviel Unsichtbare hier im Land. So, das denke ich.“
Dann klingelt Annas Handy. Man kann kaum glauben, daß da die gleiche Person, die eben noch zornige Reden hielt, spricht. Liebkosungen werden in Deutsch ausgetauscht. Nach dem Telefonat lächelt sie mich an: „Meine neue … wie sagt man? … große Flamme? Also meine neue große Flamme kommt aus der Schweiz, lebt aber in Berlin. Sein Deutsch ist sehr niedlich. Manchmal versteh ich kein Wort. Er versucht aber, Polnisch zu lernen.“
Jetzt lacht Anna, und man merkt, daß es doch noch andere Dinge in ihrem Leben als Politik und Gesellschaftswissenschaften gibt: „Wenn Claude richtig Polnisch lernen will, dann müssen wir, glaub ich, fünfzig Jahre lang ein Paar sein.“