Katalog zur Ausstellung „TRANSFER, Türkiye – NRW“, Museum für zeitgenössische Kunst Münster / NRW-Kultursekretariat, 2007
Wenn man aus Berlin stammt und von hier in die Türkei reist, um sich ein Bild der Kunstszene dort zu verschaffen, hat man natürlich einige Bilder im Kopf, die man von zuhause mitnimmt. Zum einen Eindrücke aus der unmittelbaren Nachbarschaft: Ich wohne in einer Straße, in der man als Frau ohne Kopftuch mehr auffällt als mit – es ist wohl eine der „türkischsten“ Straßen Berlins. Neben den eher „bodenständigen“ Türken in meinem Kiez habe ich jedoch auch viele Berliner Künstler türkischer Abstammung kennengelernt, die sich in den letzten Jahren international einen Namen gemacht haben. Darunter die Schriftsteller Emine Sevgi Özdamar („Karawanserei“), Yade Kara („Selam Berlin!“), den männliche Hauptdarsteller aus Fatih Akins „Gegen die Wand“ oder die deutsch-kurdisch-türkischen Musikerinnen von „Lilith“.
Berlin ist zwar innerhalb Deutschlands nicht die Stadt mit dem prozentual höchsten Anteil an Türken in der Bevölkerung (das ist Frankfurt), aber sicher eine Stadt, in der das Interesse an der Kunst und Kultur der türkischen Mitbürger besonders groß ist. Das „Künstlerhaus Bethanien“ zeigt regelmäßig Ausstellungen mit starker Beteiligung türkischstämmiger Künstler, in Berlin fand 2004 das große Festival türkischer Kunst „Şimdi Now“ statt, ein Jahr später die von Christoph Tannert kuratierte umstrittene Ausstellung „Fokus Istanbul“ im Martin-Gropius-Bau. Ich selber habe auf dem Festival „Şimdi Now“ eine in Istanbul angesiedelte Krimigeschichte vorgetragen, denn ich fand das nächtliche, verwinkelte Istanbul mit seinen wenigen funzeligen Straßenlaternen einen idealen Schauplatz für eine rätselhafte Geschichte mit offenem Ende …
Doch bei solchen Veranstaltungen besteht das Problem, daß man einen Künstler nicht nach seiner künstlerischen Orientierung, also nach „Sachkriterien“ beurteilt, sondern nach seiner Nationalität. Es stellt sich wirklich die Frage, ob in unserer nicht nur im schlechten, sondern auch im guten Sinne globalisierten Welt immer noch Ausstellungen mit Titeln wie „Afrika“, „Fokus Istanbul“, „Chinas Avantgarde“ oder „Berlin – Moskau“ gemacht werden müssen. Schon in den Fünfziger Jahren wehrten sich namhafte Vertreter der „New York School“ gegen ihre Vereinnahmung für nationale Interessen: Ein Mark-Rothko-Gemälde zierte das Cover eines Politikmagazins und sollte in dunkelsten Zeiten des Kalten Kriegs Freiheit, Weite und Größe (Amerikas) versinnbildlichen. Rothko wehrte sich entschieden gegen solch eine Instrumentalisierung seiner Kunst. Einige der zu „Fokus Istanbul“ eingeladenen Künstler äußerten genau an dieser auf nationalen Konzepten basierenden Künstler-Auswahl ihre Zweifel. „Overall fatigue over exhibitions based on the national identity of artists”, lautet das knappe und vollkommen einsichtige Statement eines Künstlers, der seine Arbeit zurückzog. Ein anderes Problem stellt bei solchen Ausstellungen mit unterschwelligem „Völkerverständigungscharakter“ nicht nur die kuratorische Auswahl der Künstler, sondern auch der Kunstwerke selbst dar: Natürlich waren bei „Fokus Istanbul“ zu viele klischeehafte Fotos von Bosporus-Brücken mit platten Okzident-trifft auf-Orient-Implikationen zu sehen, ganz zu schweigen von den vielen Videos mit Istiklal-Spaziergängen, die vorführen sollten, wie „anschlußfähig“ und EU-kompatibel die Türkei doch sei (die Istiklal ist die Hauptgeschäftsstraße Istanbuls, mit einem ausgesprochen „westlichen“ Anlitz).
Welche Kunst würde ich nun also in Istanbul vorfinden (ich wäre gern noch nach Diyabakir gereist, aber dies war aus zeitlichen und finanziellen Gründen leider nicht möglich) – Kunst also, die nicht für den Zweck, die Türkei im EU-Europa zu repräsentieren, ausgewählt worden war, sondern mir – einfach so – im Dickicht der Straßen, Galerien, Museen und Hinterhöfe begegnen würde? Die bekannte Berliner Künstlerin Ina Wudtke (unter anderem bei „Fokus Istanbul“ ausgestellt), auch als Djane T-Ina berühmt, hatte mir nach einem einjährigen Istanbul-Stipendium schon berichtet, daß es es weder in der 17-Millionen-Stadt Istanbul noch in der Hauptstadt Ankara oder im kulturträchtigen Izmir annähernd solch ein Netzwerk an Museen, Galerien, Kunstvereinen, Kuratoren, Kritikern, Stiftungen und Stipendien gäbe wie in vielen deutschen Städten. Sie hat in der Türkei vor allem das subkulturelle Milieu, das in Städten wie Berlin einen prägenden Anteil an der Kunstszene hat, vermißt oder nur in rudimentären Ansätzen vorfinden können.
Hinter den bunten Neonröhren, den grell geschminkten Transvestiten und der wummernden Musik aus den vielen Clubs auf der Istiklal und in den trendigen Vierteln wacht doch das Auge des Gesetzes. In den so bunt und freakig wirkenden Nachtclubs finden oft Razzien statt. Nach jeder Razzia sind die Clubs wochenlang fast ausgestorben. Ina Wudtke erzählt mir eindringlich von der Angst einiger Leute aus dem schwullesbischen Milieu. Homosexualität ist nach türkischer Rechtsprechung eine Straftat, wobei in Bezug auf die männliche Homosexualität feinsinnig unterschieden wird: der aktive Partner macht sich nicht schuldig, weil er sich „männlich“ verhält – nur der „passive“ Mann verhält sich gesetzeswidrig.
In einer Gesellschaft, in der Selbstausdruck oft genug mit Gesetz und Sitte kollidiert und strafrechtlich verfolgt wird, ist auch künstlerischer Selbstausdruck keine Selbstverständlichkeit – wie ich bald selber in Erfahrung bringen konnte. Eines meiner Bücher ist in der türkischen Übersetzung nur halb so lang wie in deutscher Sprache. Ohne Rücksprache mit der Autorin wurden viele, vor allem erotische Passagen gestrichen, um in vorauseilendem Gehorsam möglichen Ärger mit der Zensur zu vermeiden. Dennoch sei gesagt, daß der Gendas-Verlag mir eine wundervolle Buchpremiere mit einer Vielzahl von interessanten Gästen und einer phantastischen Auswahl an Pop-Art-farbigen Süßigkeiten kredenzt hat … Doch vor dem Hintergrund jener gesellschaftlicher Restriktionen, ebenfalls sichtbar in dem Aufschrei, den die beiden kurdischen Künstler dieses Katalogs auslösten, weil sie in Bochum (!) kurdisch sprachen, kann man nicht eine ähnlich frei entfaltete, ubiquitär sichtbare Kunstszene wie in einigen anderen Ländern erwarten. Natürlich gibt es verdiente Größen wie Vasif Kortun und Erden Kosova, deren Buch „Abseits, aber Tor!“ ich mit Begeisterung studiert habe – und es gibt politisch hochinteressante Künstlerinnen wie Hale Tenger oder Gülsüm Karamustafa, die auch in Deutschland diskutiert werden. Dennoch schienen mir eher Einzelfiguren monolithisch aufzuragen als daß man von einem vielstimmigen Spektrum sprechen könnte. Daß ein kunstbetriebliches Netzwerk, eine sichtbare Infrastruktur von staatlicher Seite bislang wenig ausgebaut wurde, hat offenbar bei wohlhabenden Privatleuten ein stärkeres Interesse an der Kunstförderung evoziert. Die „Frankfurter Rundschau“ berichtete hierzulande in extenso über den Wettstreit der Istanbuler Familien Eczasibaşi und Sabanci um den inoffiziellen Titel des großzügigsten Kunstsponsors. Die Nichte des Unternehmers Sakip Sabanci hatte die Ausstellung „Picasso in Istanbul“ organisiert, im nächsten Jahr zeigte das Sabanci-Museum dann Rodin. Auch die ins Zentrum der Medien gerückte Istanbul-Biennale wird von einem Mitglied der Pharmazie-Hersteller-Familie Eczasibaşi finanziert, genauso wie das Museum Istanbul Modern, das parallel zur 9. Biennale unter weltweiter Beachtung seine erste Ausstellung zeitgenössischer Kunst eröffnete. „Center of Gravity“ wurde kuratiert von Rosa Martinez, die auch die Biennale von Venedig (2005) mitleitete. „Nicht der Staat, sondern Privatleute sind es, die den aktuellen, westlich orientierten kulturellen Aufbruch in Istanbul tragen“, wurde mir in Istanbul vielerorts gesagt. Die Meinungen über das neue Museum „Istanbul Modern“ gehen jedoch auseinander. So kritisiert die aus Nordrhein Westfalen stammende und seit 15 Jahren in Istanbul lebende Dokumentarfilmerin und Kulturmanagerin Sabine Küper-Büsch, daß der sehr bemüht dem „westlichen“ Kunstverständnis nachgeeiferte Bau des Istanbul Modern in dem schönen alten Hafenkomplex Antrepo“ wie ein Fremdkörper und ziemlich „antiseptisch“ wirke. Auch bemängelt sie, daß der Kunstförderer Eczasibaşi sich gehörig selbst inszeniert: Überall in und um das Gebäude prangt das Logo des Pharma-Herstellers. Im Sanitärbereich stößt der Besucher auf protzige Kopien italienischer Designer. Kein Mut zu einem eigenen Weg. Wo Geld ist, wird denn auch nicht gekleckert, sondern geklotzt: Mit einem Catering für ca. 5000 Gäste (Istanbul Modern und 9. Biennale) brauchen sich die Geldgeber wahrlich nicht zu verstecken. So gefeiert wird in Deutschland (leider) nicht mehr.
Neben den privaten Einrichtungen der großen Kunstmäzene Sabanci und Eczasibaşi ist auf jeden Fall Vasif Kortuns Platform Garanti Contemporary Art Center, der Ort für unabhängige junge Kunst. Frustriert von der einseitigen Monopolstellung der großen Kunstförderer in Istanbul starten jedoch auch andere neue Initiativen: Sabine Küper-Büsch hat kurzerhand einen eigenen Kunstverein gegründet: www.diyalog-der.eu. Hüseyin Alptekin, der in Venedig in diesem Jahr mit einem Beitrag vertreten ist, ist dabei. Spannend schien mir auch xurban.net, das transnationale Künstlerkollektiv aus Istanbul und New York, das mir auf der 8. Biennale schon Eindruck mit großformatigen Fotos der türkisch-irakischen Grenze im Hafengelände „Antrepo“ machte.
Was dem Kunst-Besucher aus Deutschland ins Auge fällt, ist – abgesehen von „vertraut“ aussehenden Gebäuden wie Istanbul Modern – die Vielzahl an ungewöhnlichen und skurrilen Orten, an denen Kunst ausgestellt wird. Wobei es in Deutschland (besonders in Berlin) auch eine gewisse Vorliebe für „authentische Orte“ gibt. Dennoch scheint Kunst in Istanbul in besonderer Weise in das Stadtbild verwoben. Auch dies hat „historische“ Gründe: Der Veranstalter der Biennale, die Istanbul Stiftung für Kultur und Künste, wurde 1973 (unter der Leitung von Dr. Nejat F. Eczacıbaşı, dem damaligen Chef des Eczacıbaşı-Unternehmens) gegründet, um jedes Jahr ein internationales Kunstfestival auszurichten (Musik, Jazz, Film, Theater, visuelle Künste). Das erste Festival wurde im Juni und Juli 1973 anläßlich des 50. Jahrestages der Gründung der Türkischen Republik ausgerichtet. Mit dem Filmfestival des Jahres 1984 begann die Abspaltung eigenständiger Veranstaltungen für jede Gattung, nach wie vor unter dem gemeinsamen Dach der Stiftung. 1987 fand erstmals eine Biennale der visuellen Künste statt. Da es der Stadt an ausreichend großen Ausstellungsorten mangelte, machte man ab der zweiten Biennale aus der Not eine Tugend und bezog unter dem Thema „Zeitgenössische Kunst in traditionellen Räumen“ historische Bauten konzeptionell ein. Seitdem ist dies ein Charakteristikum der Biennale Istanbul.
Als ich dieses Mal (2005) nach Istanbul komme, sind überall die rosa Markierungen als Erkennungszeichen der Biennale zu finden. Wie ein blaßroter Faden zieht sich die Farbe durch die Altstadt Istanbuls. Die verschiedenen Privathäuser, ehemaligen Hafendocks, ein Tabaklager, das aus Fatih Akins Filmen berühmte „Grand Hotel de Londres“ – überall verbirgt und offenbart sich Kunst. Das Viertel Beyoglu wird so selbst zum Kunstwerk. „So viel Beschäftigung mit dem sich rasant verändernden Istanbul, mit seinen urbanen Strukturen, seinen Verkehrsproblemen und den Fragen nach menschlichem Lebensraum in dieser unwirtlichen und gleichzeitig magischen Mega-Stadt war nie“, schreibt der Kunstkritiker Dirk Fuhrig euphorisch. Die oft abschüssigen und verschlungenen Wege von einem Ausstellungsort zum nächsten führen den Besucher mitten durch traditionelle Handwerker- und Kleingewerbe-Viertel und konfrontieren ihn en passant mit den Lebensrealitäten. Man kann wirklich an jeder Straßenecke Stadtkunstprojekte sehen – doch die kulturelle Matrize der Stadt bleibt gegen alle temporäre Kunstbesetzung stark und authentisch. Das Konzept, die Stadt „künstlerisch aufzufalten“ – wie es Vasif Kortun, einer der beiden Biennale-Kuratoren beschreibt – ist gelungen. Die Kuratoren der Biennale 2005 – Charles Esche aus den Niederlanden und der schön erwähnte Vasif Kortun – geben sich sympathisch bescheiden. Sie wollen nur „das Buch Istanbul“ aufschlagen, „die Stadt aufblättern“ und keinen Wettbewerb mit anderen Kunstzentren führen. „Es geht hier nicht darum, in eine Konkurrenz zu andern Kunstmetropolen zu treten.“
Ein Großteil der Werke ist speziell für die Biennale entstanden. Junge Künstler aus aller Welt – Europäer, Amerikaner, im Ausland geborene Türken – wohnten über mehrere Monate hinweg in Istanbul, um die Stadt zu erkunden. Ein schöner, spannender Stadtrundgang ergibt sich für die Besucher allemal. Der Kunst-Tourist darf durch labyrinthhafte Viertel gehen, die immer noch als anrüchig und gefährlich beschrieben werden, obwohl sie längst voller Touristen sind und von der Polizei überwacht. Man kann frischen Fisch am Ufer des Bosporus essen und seinen eigenen Tagesrhythmus mit dem der Kunsterkundung amalgamisieren. Kunst taucht immer genau dort auf, wo man sie nicht erwartet: Wunderbar zum Beispiel Ahmet Öĝüts Aktion „Somebody Else’s Car“. In Minutenschnelle „verwandelt“ der Künstler parkende Autos in Taxis, in dem er sie mit Papier beklebt und ein selbstgebasteltes Taxischild auf das Dach setzt. Auch zu „Polizeiautos“ mutieren friedlich parkende Autos unter der flinken Hand Öĝüts. Durch die Integration der Biennale mitten in die Stadt bietet sich dem Besucher ein einfacher, direkter, unkonventioneller und auch abenteuerlicher Zugang zu aktueller bildender Kunst. Abenteuerspielplatz statt weißer Museumswände, Kunst nicht oder nicht nur an ruhigen kontemplativen Orten, sondern im urbanen Getümmel. Mir schien – und dies ist keinesfalls negativ gemeint: Istanbul feiert sich ein wenig selbst bei dieser Kunstschau. „The biennial is for and about Istanbul“ sagen die beiden Kuratoren. Die Bedeutung des urbanen Kontextes wird aus ihren einleitenden Worten zum Katalog der 9. Biennale deutlich: „We have sought to address the environments in which the work will be shown and to place art in dialogue with different aspects and observations of the city itself.” Und: „We hope this Biennial will be understood as a way of seeing Istanbul …”. Die in Istanbul ausgestellte Kunst wirkt so nolens volens selbst-referentiell, mit all den hiermit implizierten Vor- und Nachteilen. Den authentischen Charme empfindet der zum Teil von weither angereiste Besucher als besonderes Plus. Aber die Sichtbarkeit der Stadt, der Eigencharakter der Standorte raubt der Kunst selbst eine gewisse Freiheit. Die Umgebung, in der die Kunst ausgestellt ist, ist selber sehr stark Teil des Kunstwerks oder vielleicht sogar das eigentliche Kunstwerk. Die Umgebung kann eine künstlerische Arbeit erhöhen, auf einen luftigen Thron setzen und ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, aber auch beengen, semantisch festlegen, erdrücken und an die Wand spielen. Die Kunst tritt in jedem Fall mit ihrem Kontext in einen Dialog – ob sie will oder nicht. Und aus jeder Präsentation von Kunst wird ein Event, ein urbaner Film, in dem der Zuschauer zum Partizipienten wird – ob es ihm paßt oder nicht. Das war auch bei der 8. Istanbul Biennale („Poetic Justice“), die 2003 von Dan Cameron vom New Museum of Contemporary Art in New York kuratiert wurde, nicht anders: Ich war hin- und hergerissen, zwischen Begeisterung über die malerischen Ausstellungsorte und dem Gefühl, die Wucht der Historie lasse der neuen Kunst kaum Luft zum Atmen. Als Ausstellungsorte dienten unter anderem die Yerebatan Zisterne, die 532 von Justinian erbaut wurde und die unvergleichliche byzantinische Hagia Sophia, an der der japanische Künstler Ozawa Tsuyoshi ein Nylongewächshaus aufbaute, in das er Fotos von jungen Türkinnen mit aus Gemüse gebastelten Maschinenpistolen hängte. Die gleiche Arbeit hat Tsuyoshi auch schon in anderen Ländern durchgespielt: Die „Waffen“ basieren grundsätzlich auf typisch lokalen Gerichten. In jedem Land werden nach der Ausstellung Parties gefeiert, auf der aus der Gemüsepistole zubereitete Gerichte gegessen werden. Zu diesem Projekt paßt ein die Türkei versinnbildlichender Ort wie die Hagia Sophia, aber nicht alle Kunstwerke gehen solch eine gelungene Verschmelzung mit ihrem Standort ein. Auch wenn man sich daher zum Teil weniger auratische und „besetzte“ Orte für die freie Präsentation von Kunst wünschen würde: Der Vorteil an der wenig institutionalisierten Kunstszene Istanbuls ist, daß die Biennale tatsächlich jedesmal neu erfunden werden muß – von ihren Örtlichkeiten und den Gegebenheiten der sich brutal schnell verändernden Stadt. Vielleicht kann man Kunst in einer Stadt wie Istanbul grundsätzlich nicht so ausstellen wie in Venedig mit seinen permanenten Pavillons, in Paris oder in London? Das Fehlen der notwendigen Strukturen ist ein Manko für den Zugang des Bürgers zur Kunst und gleichzeitig natürlich auch ein Schutz vor einer zu saturierten, selbstgefälligen, überinstitutionalisierten Kunstszene, die an ihren eigenen Ritualen erstickt.
Doch selbst in Städten wie Berlin, die eine sehr große Dichte an Museen und anderen namhaften Ausstellungsorten zu verzeichnen haben, gibt es einen Trend zurück zum „Kunsthappening mit Lokalkolorit“. Die berlin biennale des Jahres 2006 fand in ausgesucht „authentischen“ Räumlichkeiten in der Auguststraße im ehemaligen Scheunenviertel (einem „jüdischen Viertel“ vor dem Zweiten Weltkrieg) statt. Als Ausstellungsorte dienten unter anderem eine alte jüdische Mädchen-Schule, ein Friedhof, eine Kirche und ein ehemaliger Ball-Saal. Die Kunst wurde hier in einem ästhetisch (und auch politisch) stark vorbestimmten Kontext ausgestellt. Für viele von weither angereiste Kritiker war dies ein Erlebnis – bezeichnenderweise schrieben sie oft eher über das „Konzept“ und die Orte der berlin biennale als über das dort Gezeigte. Für Kritiker, die die melancholisch angehauchte Berliner Gammellandschaft mit ihren vielen Residuen des Zweiten Weltkriegs zu Genüge kennen, war die berlin biennale eher ein pathetisch-nostalgisches Unterfangen, eine Selbstinszenierung statt eine Inszenierung der Kunst. Zumal ich mich grundsätzlich eher für das Bild als für den Rahmen interessiere. Ob mir die nächste Istanbul Biennale gefallen wird, wird sicher eher von der dort ausgestellten Kunst abhängen als davon, ob ich ein „verruchtes“ Viertel durchmessen, eine alte Zisterne durchwaten und eine Okzident-trifft-auf-Orient-Metapher überqueren muß. Zum Glück ist die Kunst oft selber besser als alle kuratorische Absicht, ob nun im Martin-Gropius-Bau in Berlin oder den trendig-charmanten Fabrikhallen am Bosporus.