taz, 30. März 2005
Inge und Birte Hanneling sitzen Schulter an Schulter und sprechen kein Wort miteinander. Sie blättern in verschiedenen Magazinen der Bundesanstalt für Arbeit. Birte hat das Heft »Chemie – Glas – Keramik« auf dem Schoß und liest »Bleiben Sie am Ball – mit einer Weiterbildung zu diesen Themen: Siebdruck / Plastisches Gestalten / Steine und Erden, Technische Keramik«. Schönes Porzellan ist ja nicht verkehrt, aber das Zeug selber machen? Das ist bestimmt auch eine dieser Aufgaben, die man heillos unterschätzt. Birte denkt an den Job in der Papierfabrik auf dem Festland – ihr letzter Job, bevor sie zu ihrer Mutter nach Sylt zurückgegangen ist. Auf die Insel, diesen, wie ihr auf dem Festland scheint, paradiesischen Ort mit lauter netten gepflegten Menschen und einer sehr geringen Kriminalitätsrate. Zu dieser Ansicht ist sie aber erst nach Hamburg und nach Uwe gekommen.
Nein, Herstellung kommt nicht in Frage. Wenn schon, dann lieber Verkauf. Birte betrachtet eine Seite mit bunt aufeinandergestapelten Schalen. So etwas täglich in den Händen zu halten, wär doch bestimmt nicht ganz verkehrt. Hat es nicht gestern in diesem Wellness-Artikel geheißen, man solle sich täglich mit »schönen Dingen« umgeben? Auf Sylt gibt es viele hübsche kleine Keramikgeschäfte, wo man sicher ein angenehmes Dasein hätte. In Arsum, Morsum und Keitum würde sie schon gern etwas finden (es muß ja nicht gleich Kampen sein).
Ihre Mutter sitzt neben ihr und liest »Textil – Bekleidung – Leder«. Mutter mit ihrer Ledermacke. Sie näht aus Lederresten, die sie umsonst auf dem Festland bekommt, Taschen und Westen zusammen, die sie per Internet oder als Kommissionsware auf der Friedrichstraße anbietet. Zu Hause rattert ständig die Nähmaschine. Schönes Geräusch!
Ihre Mutter liest gar nicht, bemerkt Birte jetzt, sie guckt sich junge Lederhersteller in einer Werkstatt an, einen nach dem anderen. Birte starrt ihre Mutter an, damit es ihr peinlich wird, dabei beobachtet zu werden. Aber ihrer Mutter ist nichts peinlich. Als jetzt ein Mann in der Tür erscheint, um den nächsten in sein Zimmer zu bitten, mustert sie ihn neugierig von Kopf bis – Arsch. Arsch, das sagt ihre Mutter immer. Knackarsch. Besonders, wenn der in einer Lederhose steckt.
Auch diese Situation – mannlos zu sein – teilt sie mit ihrer Mutter.
Das tut mir aber leid, daß ihr jetzt beide arbeitslos geworden seid, hat Anke letztens in der »Sansibar« gesagt und sich dann weggedreht. So ist es immer, wenn sie mit Inge irgendwo hingeht.
Birte schließt die Augen. Sie kann den Anblick ihrer Mutter nicht mehr ertragen. Ihr Atmen, diese Art, hemmungslos herumzuschnauben und -zuschnaufen, sie läßt sich immer so gehen … die gehört eigentlich aufs Festland …
Birte denkt an die winzige Eigentumswohnung in Westerland in einem Fünfziger-Jahre-Neubau. Westerland ist keine schöne Stadt. Kein Vergleich zu Kampen oder Keitum. Dafür weitgehend touristenfrei.
Jetzt steht ihre Mutter auf und stampft durch den Raum. Natürlich – Birte hat es schon kommen sehen – rammt sie den Tisch mit den beiden PCs. Zwei, drei ebenfalls wartende Männer blicken auf, jedoch nicht – wie ihre Mutter sich sicher einbildet – mit interessiertem Blick, sondern vielmehr aufgeschreckt durch ihre polternde Art. Ihre Mutter geht zum Regal mit den Heften, nimmt eines, blättert laut raschelnd darin herum, schiebt es geräuschvoll zurück in das Fach, wobei sie sich dabei so doof anstellt, daß die Heftseiten am unteren Rand zerknüllen. Dann reißt sie noch zwei, drei andere Hefte aus den Fächern, blättert hektisch darin herum (einer der Männer seufzt auf) und stopft sie ebenfalls wieder zurück. Keines der Hefte, das ihre Mutter angefaßt hat, sieht nachher so aus, daß ein anderer Besucher Lust hätte, noch hineinzuschauen. Jetzt hat sich ihre Mutter tatsächlich für eines entschieden und stapft – nicht ohne sich mit dem Magazin theatralisch Luft zuzufächeln – zurück.
Mit einem lauten »Haaaach« läßt sie sich auf den Stuhl plumpsen. Erneut beginnt das geräuschvolle Blättern. Birte blickt kurz auf den Titel: »Chemie – Glas – Keramik«.
Die nächste halbe Stunde kann Birte zusehen, wie ihre Mutter an mehr oder weniger den gleichen Stellen Kringel macht wie sie.
Die Tür geht auf. Ein für diese Art von Beruf erstaunlich sympathisch aussehender, freundlich lächelnder Mittfünfziger in einer Lederweste – nein, das darf nicht wahr sein, in einer Lederweste, die eindeutig von ihrer Mutter stammt – steht in der Tür.
»Inge und Birte Hanneling.«
Wieso ruft er sie nicht einzeln auf?
Birte überlegt einen Moment. Sie ist zweiundzwanzig Jahre jünger als ihre Mutter – aber ihre Mutter hat viele Jahre in einem Keramikladen in Keitum gearbeitet. Bevor sie mit diesem Leder-Knackarsch namens Heiko zusammengekommen ist.
Dieser Text wurde im Auftrag des Maxim Gorki Theaters in Berlin geschrieben. Analog zur „Bitterfelder Konferenz“ in der DDR sollten Autoren sich in den öffentlichen Raum – in diesem Fall: in ein Arbeitsamt – begeben und sich dort zu einem fiktionalen Text mit quasi-dokumentarischen Inhalt inspirieren lassen.