ZEIT Online, 8. Oktober 2008
Nachdem die Banken jahrelang hohe Gewinne gemacht haben, müssen die Verluste jetzt gemeinschaftlich getragen werden. Und man kann schon erahnen, auf wen die Lasten der Krise abgewälzt werden
Das habe ich in den vergangenen 20 Jahren noch nicht erlebt: In der Filiale meiner Bank ist direkt hinter dem Eingang ein Buffet aufgebaut; es gibt Orangensaft, Kekse und Schokolade, Schweizer Edelschokolade, wohlgemerkt. Damit die Kunden mit Endorphinen im Blut den Laden betreten!
Tatsächlich ist es ja zur Abwechselung ganz angenehm, einmal hofiert und nicht beleidigt zu werden: Hieß es nicht jahrelang, der deutsche Bankkunde sei zu behäbig, unflexibel, nicht risikofreudig genug? Stets hielten Ökonomen und Finanzexperten seine Bedachtsamkeit für unzeitgemäß, geradezu neurotisch. Mit diffusen Begriffen wie dem der „German Angst“ versuchte man in intellektuellen Zirkeln die mangelnde Risikofreudigkeit der Deutschen in Wirtschaftsbelangen auch noch psychohistorisch zu fundieren. Im gleichen Atemzug wurde stets die Deregulierung der Finanzmärkte, des Arbeitsmarktes und der Sozialsysteme angepriesen.
Perfiderweise hat man diese Kernelemente des Neoliberalismus auch noch ideologisch aufgeladen – indem man sie mit dem Begriff der Demokratie verlinkte, als sei das eine ohne das andere nicht denkbar. Wirtschaftsliberalismus und Demokratie schienen zwei Seiten einer goldenen Medaille zu sein. Sozialistische Ideen galten bestenfalls als Beiwerk einer altbacken-autoritären Gesinnung, schlimmstenfalls als Ausweis einer demokratiefernen Weltsicht.
Dabei wurde nicht die Frage gestellt, wie frei und demokratisch es sich langfristig unter der Fuchtel einer Finanzoligarchie lebt – einer kleinen Gruppe von Bankvorständen, für die der Staat kein entscheidungsmächtiger Partner auf Augenhöhe ist, sondern nur eine Oma mit Notgroschen im Sparstrumpf. Merkwürdigerweise schreiben nun die gleichen Zeitungen und Magazine, die bislang unermüdlich die unsportliche Ängstlichkeit der Deutschen beklagt und jede Form von Etatismus angeprangert haben, „Mehr Regulierung! Mehr Staat! Mehr Kontrolle!“ – Die Amnesie der Überheblichen.
Von Brecht stammt das schöne Diktum: Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Unter der Drohung, das ganze Finanzsystem könne zusammenbrechen, scheinen in der Tat plötzlich alle Mittel gerechtfertigt: Nachdem die Banken jahrelang fantastische Gewinne gemacht haben und sich als Glücksritter feiern ließen, müssen die Verluste jetzt gemeinschaftlich getragen werden. Das ist nichts Anderes als Sozialismus, nur für Wohlhabende – willkommen in der Volksrepublik Wall Street!
In der Not scheint der ärgste Feind, der böse Staat, auf einmal zum liebsten Freund zu werden. Dabei kann man erahnen, welchen Preis sein Eingreifen haben wird und auf wen die Lasten der Rezession abgewälzt werden: Schließlich wurden schon unter weitaus günstigeren Umständen zahlreiche soziale Grausamkeiten beschlossen. Kürzlich wetterte ein Vertreter der Arbeitgeberseite mit Blick auf die aktuellen Tarifforderungen, die Gewerkschaften hätten „nicht alle Tassen im Schrank“. Als sich das Land im Konjunkturhoch befand, stiegen die Löhne nicht – Deutschland bildete im europäischen Vergleich das Schlusslicht hinsichtlich der Lohnentwicklung -, jetzt erscheinen Forderungen danach geradezu als obszön. Gespart werden wird bei den Löhnen und den Sozialleistungen.
An dieser Stelle sei nur daran erinnert, welche Veränderungen in der Hauptstadt nach dem Bankenskandal (2001) zu verzeichnen waren:
Ein Schwimmbad nach dem anderen machte dicht, die nächtliche Beleuchtung im öffentlichen Raum wurde gern mal abgeschaltet, um Strom zu sparen, sogar auf der Avus war es gespenstisch duster, Krankenhäuser wurden kurzerhand geschlossen, Bibliotheken sowieso. Es wurde an Kindertagesstätten, Universitäten, Kultureinrichtungen, bei der Behindertenhilfe, einfach überall gespart. Nicht immer hatte man den Eindruck, noch in der sogenannten Ersten Welt zu leben.
Da verzichte ich doch lieber auf die Schweizer Edelschokolade im Foyer meiner Bank.