ZEIT Online, 15. September 2008
Protest und Etablierung widersprechen sich nicht mehr. Im Gegenteil. Originalität und unkonventionelles Verhalten sind für den beruflichen Erfolg entscheidend
Sven Giegold sah noch nie aus wie ein „angry young man“, der gegen die Verhältnisse rebelliert. Dass der prominente Vertreter der Globalisierungskritiker von attac! kürzlich bekannt gab, für die Grünen im Europaparlament kandidieren zu wollen, war den meisten Zeitungen nicht viel mehr als eine Meldung wert. So unauffällig vollzog sich sein Wechsel vom außerparlamentarischen Protest in die etablierte Politik. Vermutlich lag es daran, dass dieser Schritt von vielen längst erwartet wurde. Dabei wurden die Globalisierungskritiker von attac! eine Weile lang als beinahe einzige nennenswerte Nachfolger der rebellischen Jugend aus den Sechzigern und Siebzigern angesehen, wenngleich sich Adressat und Methode des Protests deutlich unterscheiden.
In gewisser Weise passt die Karriere von Giegold zur „ Generation der traurigen Streber“, wie sie Jens Jessen erst kürzlich beschrieben hat. Eine Generation, die bereits im Aufbegehren weiß, dass ihr Protest auf der Straße irgendwann im Abgeordnetenhaus enden wird. Und deren idealistischsten Vertreter so pragmatisch sind, dass sie diesen Schritt nur folgerichtig finden. In gewisser Weise hat die Generation attac! positiv resigniert und die Erfahrung akzeptiert, dass man nicht gegen den Kapitalismus rebellieren kann, weil er jede Rebellion absorbiert.
Dass Protest und Etablierung sich nicht widersprechen, hat diese Generation schließlich schon von ihren Vorgängern gelernt. In den sechziger und siebziger Jahren lehnten sich Jugendliche gegen die normierte Welt ihrer Eltern auf – um anschließend zu erleben, dass sie damit erfolgreicher waren, als sie es selbst für möglich hielten. Denn ein moderner Kapitalismus gründet sich längst nicht mehr auf steifen Bürokratismus und genormten Identitäten, sondern auf kreativer Differenz und ständiger Veränderung. Die erfolgreichsten und innovativsten Branchen fördern heute Eigenschaften, die früher strikt zum Repertoire der Gegenkultur gehörten: Eigeninitiative, Flexibilität, Kreativität, flache Hierarchien, Gruppendynamik.
„Vielleicht hätten wir uns einen marketingtauglicheren Namen wie ‚Rebellnomics’ für die Wirtschaft im rebellischen Zeitalter ausdenken sollen“, beschrieb der französische Autor, Camille de Toledo, in „Goodbye Tristesse“ vor ein paar Jahren das Lebensgefühl der post-68er Generation. Er erzählt darin, wie die Kulturindustrie jede Form der Auflehnung vermarktet und jede Provokation sofort von Marketing-Abteilungen vereinnahmt wurde.Widerstand sei heute zur bloßen Mode verkommen, schreibt de Toledo, weil jede Rebellion sofort vom Markt geschluckt wird.Als „Rebellnomics“ bezeichnet Torres das neue System, das auf permanenten Wandel basiert und gerade dadurch funktioniert, indem es dissidente Strömungen in sich aufnimmt.
Zwei Faktoren trugen zu dieser „Rebellnomics“ bei: Die ungeheuere Beschleunigung, die sich durch die neuen Technologien ergab, sowie die postmoderne Individualisierung. So entwickelte sich ein neuer kreativer Sektor, in dem sich unkonventioneller Lebenswandel und bürgerliche Karriere durchaus miteinander verbinden ließen. Die ehemals antibürgerliche Losung „Lebe wild und gefährlich“ gehört nun zum Lebensgefühl einer ganzen Generation von neuen Selbstständigen in der Softwarebranche, in Werbeagenturen oder in der Unterhaltungsindustrie. In einer so veränderungsfreudigen Welt wird die von Jens Jessen eingeforderte Kritik einer jüngeren Generation gegen die Verhältnisse nur sogleich als „kreativer Input“ verarbeitet.
Von einer ernstzunehmenden neuen Rebellion ist man hierzulande entsprechend weit entfernt. Die „ Generation der Streber “ hat sich etabliert – ihr muss man nichts mehr befehlen, weil sie alle Anforderungen bereits im vorauseilenden Gehorsam erfüllt hat. Sie ist mobil und flexibel, auf brave Art ein bisschen wild, denn sie weiß, dass nicht nur Pragmatismus, sondern auch ein gewisses Maß an Originalität und unkonventionellem Verhalten (kein führender Manager ohne „Spleen“) für ihren beruflichen und gesellschaftlichen Erfolg entscheidend ist. Ebenso veredelt heute auch gern ein wenig „soziales Engagement“ den Lebenslauf. Die Generation der nonkonformistischen Biedermeier oder der „effizienten Idealisten“ (Manuel J. Hartung und Cosima Schmitt in der ZEIT) weiß, dass es kein wahres Leben im falschen gibt und sucht deshalb erst gar nicht danach.
Sollte die heutige Jugend tatsächlich nichts mehr von der Zukunft erwarten und sich deswegen in lauer Apathie befinden, wie Jens Jessen postuliert, wäre dies nur konsequent aus den Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte. Gegen die Ökonomie der ständigen Revolution lässt sich schlecht rebellieren. Oder wenn, dann noch am ehesten mit Wertkonservativismus, mit Privatismus.
Vielleicht kommt aber alles auch ganz anders. Rebellion lässt sich weder planen noch vom Feuilleton initiieren. Sie kommt, wenn die Zeit danach verlangt, nicht DIE ZEIT.Unter dem Titel „Wenn Frankreich sich langweilt“ erschien im März 1968 ein anklagender Artikel in „Le Monde“ über die unpolitische Jugend. Ein paar Wochen später war es dann in Paris mit der Langeweile vorbei.