ZEIT Online, 17. Juni 2008
Die meisten Deutschen glauben, unsere Sprache sei vom Verfall bedroht. Ein Irrtum
Waren Sie am Wochenende wieder auf der Piste, dass es so richtig gefetzt hat? Sind Sie auf eine oberaffengeile Fete zum Abhotten gegangen, haben sich ein Lungenbrötchen nach dem anderen reingezogen, ordentlich gealkt, bis Sie voll bedröhnt waren, gar noch am Ende eine Trulla – hoffentlich keine Breitbandnudel – aufgerissen*?
Wenn ja, dann haben Sie bestimmt nicht später in dieser Sprache davon berichtet. Zwanzig Jahre sind vergangen, und schon kommen uns oberaffengeil, Abhotten, Lungenbrötchen und Trulla mächtig altmodisch vor. Dass nach der jüngsten Studie des Demoskopischen Institut in Allensbach zwei Drittel aller Deutschen (65 Prozent) glauben, die deutsche Sprache sei vom Verfall bedroht, sollte niemanden beunruhigen. Entweder die Deutschen fürchten sich davor, selbst auszusterben, oder aber sie glauben, ihre Sprache sei dem Untergang geweiht – eines von beiden ist immer Thema.
Sprache ist ein lebendiges Konstrukt, sie verhält sich nicht statisch zum Sprecher, sie verfällt nicht – dies ist eine elitäre, moralische Kategorie -, sondern verändert sich. Und oft kann man über genau diesen Prozess der organisch-ungesteuerten Veränderung von Sprache nur froh sein. Eine prima Party ist doch allemal einer oberaffengeilen Fete vorzuziehen. Und die Welt der Trullas (alternativ: Tussis) teilt sich zum Glück auch nicht mehr in Breitbandnudeln und Bohnenstangen ein.
Wenn der kultur- und medienpolitische Sprecher der FDP-Bundestagfraktion, Christoph Waitz, nun panisch sagt, dem offensichtlichen Sprachverfall müsse Einhalt geboten werden, darf man sich nicht von dieser Hysterie anstecken lassen. Einhalt geboten werden muss höchstens der Verbreitung seiner Idee, dass nun die Eliten (Waitz) gefordert sind, ihren Mitbürgern das Sprechen beizubringen. Was für ein Vorschlag: Da sollen ein paar Hundert Experten Millionen Menschen erklären, welche Worte sie in den Mund nehmen dürfen?
Was ist das für eine unglaubliche Einmischung in die Privatsphäre eines Menschen? Es wäre nichts dagegen einzuwenden, wenn Zeitungen und Verlage mehr Redakteure und Lektoren einstellen würden, damit man nicht ständig über Kommafehler und falsche ß stolpert. Aber lasse ich mir das Simsen verbieten, laut Waitz ein Paradebeispiel für die Verschluderung unserer Sprache?
Der Vorsitzende der Gesellschaft für deutsche Sprache, Rudolf Hoberg, hat die Ergebnisse der neuen Allensbach-Studie relativiert: „Klagen über Sprachverfall gibt es seit den alten Ägyptern und den alten Griechen, vor allem von der älteren Generation. Auch von Gesetzen zur „Rettung der deutschen Sprache“ hält Hoberg weni, denn jede Sprache verändert sich im Laufe der Zeit.
Zumal sich bei solchen Projekten immer die Frage stellt, wer das geistige, in diesem Fall: linguistische Monopol, für sich beansprucht. Es ist, wie der Berliner Journalist und Autor Bodo Mrozek, Verfasser des Bestsellers Lexikon der bedrohten Wörter , in seinem Vorwort schreibt: Für die Entscheidung, ob ein Wort zeitgemäß ist oder nicht, gibt es einfach keine objektiven Kriterien. Er zitiert Otto Violans mit den Worten: Wörter werden geboren. Sie welken und sie sterben.
Kulturwissenschaftlich lässt sich mit Jan und Aleida Assmanns Modell vom kommunikativen und vom kulturellen Gedächtnis argumentieren: Während das kommunikative Gedächtnis an lebendige Träger gekoppelt ist, also meist ungefähr 70 bis 90 Jahre umfasst, hat das kulturelle Gedächtnis einen längeren zeitlichen Horizont (Mythen, Märchen, Legenden, Rituale, Bräuche, Religion). Sprache ist natürlich auch von seiner Basis her im kulturellen Gedächtnis verankert, wird aber immer durch das kommunikative Gedächtnis überformt und erweitert.
Davon abgesehen ist der gegenwärtige Sprachverfall eher ein gefühlter als ein realer, wie die taz feststellte: Die Rechtschreibdefizite der Jüngeren sind heute nicht größer als auch schon vor zwanzig Jahren, und das trotz der Explosion der höheren Bildungsabschlüsse.
Linguisten wie Nils Langer (The Making of Bad Language: Lay Linguistic Stigmatisations in German: Past and Present) haben bewiesen, dass beispielsweise die Verwendung von ‚wegen‘ mit dem Dativ alles andere als eine moderne Sprachverschluderung ist schon im 17. Jahrhundert wurde diese Wendung benutzt und galt – noch – als korrekt.
Langer glaubt, dass Sprachgesetze und -ratgeber in erster Linie definieren, was dem Sprachgebrauch der jeweils gebildeten Mittelklasse entspricht. Dann, resümiert er, kann man aber nicht von Sprachverfall reden. Vielmehr handele es sich um das Phänomen, dass man ab einem gewissen Alter immer denkt, früher sei alles besser gewesen: Kleidung, Musik, Moral, Abitur, und eben auch die Sprache.
Dem entspricht auch, dass in der Allensbach-Studie der Sprachverfall in erster Linie von älteren Mitbürgern gewittert wird. Was heute die Abneigung gegen Anglizismen ist, war Ende des 19. Jahrhunderts die gefürchtete Effeminisierung der deutschen Sprache durch das weit verbreitete Französisch.
Insgesamt muss man wohl eher von einer Sprachinflation als von Sprachverfall sprechen: 1880 zählte der Duden noch 27.000 Wörter, im Jahr 2005 waren es 125.000. Jedes Jahr kommen im Durchschnitt 1000 Wörter hinzu.
Auch muss deutlich widersprochen werden, wenn Herr Waitz sich über so hübsche Begriffe wie Simsen aufregt. Herr Waitz, was schlagen Sie denn stattdessen vor? Glauben Sie, dass man auf dem Schulhof sagen wird: Jetzt werde ich mal den Kurzmitteilungsdienst verwenden?
* Laut Nikolaus Mützels Sprache oder was den Mensch zum Menschen macht (2007) sind diese Begriffe in den achtziger Jahren in Mode gewesen.