Jungle World, 23. Juni 2004
Die Wüste Negev ist die Heimat der Beduinen, doch viele ihrer Siedlungen sind nicht anerkannt. Nun sollen sie in neu geschaffene Planstädte umsiedeln.
Südlich von Beer Sheva, einer Stadt, deren helle Sandsteinarchitektur die Wüste schon ästhetisch vorwegnimmt, beginnt der Negev. Schon nach wenigen Kilometern führt ein holpriger Weg über kahle Hügel, auf denen in gemessenem Abstand voneinander einzelne Hütten und Zelte stehen. Wer jedoch romantisch-folkloristische Erwartungen an ein Beduinendorf gehegt hat, wird enttäuscht: Die Hütten und Zelte sind notdürftig aus schwarzen Plastikplanen und Zinkgerüsten zusammengebastelt. Andere Baumaterialien, die eine weniger temporäre Behausung ermöglichen, erlaubt der Staat nicht, denn diese Siedlungen sind »nicht anerkannt«.
Den Besucher erwarten keine weißen Zelte, vor denen Kamele grasen. Hier liegt Müll herum, ausgezehrte Hunde schnüffeln an alten Benzintonnen. Ein alter, erblindeter Mann humpelt in seine Hütte, braut sich auf glühenden Kohlen einen Kaffee und trinkt schweigend. Daß man von ihm ein Foto macht, möchte er nicht. Vom Zelt aus blickt man auf eine Chemiefabrik, nicht auf einen weiten Wüstenhorizont mit malerischen Dünen. Die zahllosen Strommasten zerschneiden den Himmel, und nachts erfüllt ein scheußlicher Gestank die Luft. Ein paar Kilometer weiter befindet sich das größte Gefängnis Israels, in dem unter anderem der Mörder von Yzhak Rabin einsitzt.
Die staatlichen Institutionen kümmern sich wenig um die Belange der etwa 76 000 Beduinen, die in diesem Niemandsland leben. Ihre Infrastruktur ist katastrophal. Es gibt keinen Strom, kein fließendes Wasser und keine Müllentsorgung. Im Sommer steigen die Temperaturen in den Hütten auf über 50 Grad.
Da die Siedlungen vom Staat nicht anerkannt sind, darf auch kein festes Baumaterial verwendet werden. Daher sieht man auch keine Moscheen – anders als zum Beispiel in Rahat, der Hauptstadt der Beduinen im Negev. Amer Abuhani, ein sportlich-nüchtern wirkender junger Mann, der für das Regional Council for the Unrecognized Villages tätig ist und überraschenderweise perfekt deutsch spricht, meint, daß die Religiosität in den letzten Jahren stark zugenommen habe. »Bis in die achtziger Jahre waren nicht einmal die Freitagsgebete gut besucht«, erzählt er. »Heute aber bezeichnen sich viele als religiös.« Den Grund dafür sieht Amer in den rapiden Veränderungen, denen die Beduinen ausgesetzt sind: Die erzwungene Aufgabe ihrer nichtseßhaften Lebensweise sowie die Anforderungen an ein modernes urbanes Leben haben zu einer großen Orientierungslosigkeit geführt. »Die Menschen fühlen sich hier verloren. Die Religion ist meist keine Überzeugung, sondern ein Lückenfüller.«
Die Regierung hat es bisher versäumt, die indigene Bevölkerung stärker in die Pläne für die Nutzung des Negev einzubeziehen. Statt dessen werden radikale Umsiedlungsprogramme vollzogen, ohne daß Gespräche mit gewählten Interessenvertretern der Beduinen stattgefunden haben. Ein Teil der Behausungen ist schon abgerissen worden. Jeden Monat fallen weitere Hütten und Zelte den Bulldozern zum Opfer.
Die Regierung befürchtet die demographische Entwicklung, die zu politischen und territorialen Ansprüchen führen könnte. Im vergangenen Jahr verabschiedete sie einen neuen Entwicklungsplan. Demnach werden 45 arabische Dörfer in sieben Planstädte zusammengefaßt. Die »maximale Zahl von Beduinen soll auf einem minimalen Gebiet leben«, wie Amer meint. An Stelle der Dörfer will die Regierung 14 neue jüdische Siedlungen gründen.
Auch die Situation der bereits umgesiedelten Beduinen ist nicht wesentlich besser, der Lebensstandard liegt weit unter dem Landesdurchschnitt. Die israelischen Medien bringen die Bewohner in erster Linie mit Kriminalität und Drogenhandel in Verbindung. Entsprechend schlecht ist das Image der Beduinen.
Den Palästinensern fühlt man sich hier wesentlich näher, unter anderem weil man sich ebenso wie sie in unterlegener Position sieht. »Die Beduinen besitzen zwar die israelische Staatsbürgerschaft, von vielen werden sie aber als ein Teil des Feindes betrachtet«, sagt Amer. »Damit sie sich mehr mit dem israelischen Staat identifizieren, müßte dieser viel mehr für sie tun.«
Während des Unabhängigkeitskrieges 1948 flohen die meisten Nomaden aus der Negev in die benachbarten Länder. Wer blieb, erhielt zwar die Staatsbürgerschaft, doch nicht alle damit verbundenen Rechte. Wegen ihrer arabischen Herkunft haftet ihnen der Makel an, eine potentielle Gefahr darzustellen. Dabei besitzt der arabische Nationalismus für die Beduinen wegen ihrer eigentlich transnational-nomadischen Lebensweise wenig Attraktivität. Sie konservieren eher die traditionelle Sozialstruktur – mit allen Nachteilen, vor allem für die Frauen. Diese haben häufig keine Ausbildung, sind für Kindererziehung und Haushalt zuständig und besitzen kaum Möglichkeiten, ein Leben außerhalb des Dorfes zu führen. Die erste beduinische Frauenrechtsorganisation ist jedoch schon gegründet: Sidreh versucht, den Frauen ökonomische Sicherheit zu geben, und hilft bei dem Verkauf selbst gefertigter Waren. Darüber hinaus bietet die Organisation Weiterbildungsmaßnahmen und soziale Aktivitäten an.
Allen voran setzt sich die junge Ben Gurion University of the Negev für einen Ausweg aus der katastrophalen Lage ein. Nur wenige Kilometer von den Elendssiedlungen entfernt, befindet sich der moderne Campus mit seiner ausgesprochen kühnen und mondänen Architektur. Gezielt sucht die Universität, beduinische Studenten auszubilden, um dadurch den Einfluß auf staatliche Institutionen und Entscheidungsprozesse zu fördern. Den sozialen Auftrag nimmt die Universität sehr ernst: Wer Sozialwissenschaften studiert, muß in der Region ein Praktikum bei den Wüstenbewohnern absolvieren.
Professor Frank Stern von der Ben-Gurion-Universität spricht schon von einem langsamen Wandel in der beduinischen Bevölkerung Israels. »Die ersten Generationen nach der Staatsgründung mußten erst die wirtschaftliche Grundlage schaffen, die jetzige Generation beginnt mit dem Studium. Die Akkulturation ist vielleicht mit den Türken der dritten Generation in Berlin zu vergleichen, die jetzt im öffentlichen Leben präsent sind«, erklärt Stern. Die Universität legt großen Wert darauf, Kultur und Sprache arabischer und jüdischer Israelis gleichberechtigt in das Studium zu integrieren.
Junge Leute wie Amer sind ein Beispiel für diese gebildete mehrsprachige und selbstbewußte Generation, die in der Lage ist, sich mit der Staatsbürokratie auseinander zu setzen und sich für die eigenen Rechte einzusetzen. Frank Stern berichtet stolz von der ersten Beduinen aus dem Negev, die einen Abschluß in Medizin vorweisen kann, und einem Doktoranden, der jeden Tag aus dem Zelt eines nicht anerkannten Dorfs an die Uni kommt.
Vor allem für gebildete Beduininnen ändert sich viel. Nach dem Studium bekommen viele von ihnen mit ihren traditionell ausgerichteten Familien neue Probleme; es kann schwierig für sie werden, einen Mann zu finden. Dennoch wächst das Interesse an höherer Bildung: Während vor sieben Jahren etwa hundert Beduinen an der Ben-Gurion-Universität studierten, waren es im vergangenen Jahr bereits mehr als sechs Mal so viel. Und der Anteil der Frauen hat stets zugenommen.
© Tanja Dückers, Anton Landgraf