Frank-Walter Steinmeier setzt sich die Vollbeschäftigung als Ziel. Mutig, sagen die einen. Dabei ist sie unter den herrschenden Bedingungen eine schreckliche Vision
ZEIT Online, 18. März 2008
Manchmal tauchen Wörter in den Zeitungen auf, die ich noch aus meiner Kindheit kenne und lange nicht mehr gehört habe. „Vollbeschäftigung“ ist so ein Begriff, von dem ich dachte, dass er nur noch in Bodo Mrozeks Lexikon der bedrohten Wörter auftaucht. So wie „Waldsterben“ oder „blühende Landschaften“.
Kürzlich hat dieses antiquierte Wort ein erstaunliches Comeback erfahren, denn Außenminister und SPD-Vizekanzler Frank-Walter Steinmeier meinte, bei der „Vollbeschäftigung“ handele sich um ein „kühnes“, aber „mögliches“ Ziel. „Yes, we can“ , schallte es ihm von Vertretern aus der Wirtschaft, aber auch von CDU und FDP entgegen.
In den vergangenen Jahren galt „Vollbeschäftigung“ hierzulande etwa so realistisch wie ein deutscher Sieg im Grand-Prix-Song-Contest. „Germany: zero points“ lautete Europas Urteil über die deutsche Arbeitsmarktpolitik. Kein ernst zu nehmender Politiker hatte sich noch getraut, das ominöse Wort in den Mund zu nehmen. Und jetzt soll alles anders sein?
Tatsächlich ist die Arbeitslosenquote durch die gute Konjunktur deutlich gesunken. Von einer möglichen „Vollbeschäftigung“ zu sprechen mag heute noch vermessen erscheinen. Wenn es aber so weitergeht, wer weiß?
Das Konjunkturhoch kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass trotz größeren Stellenangebots die Gehälter sinken. Das belegt eine Studie vom Deutschen Institut für Wirtschaft (DIW), die vergangene Woche veröffentlicht wurde. Demnach ist seit dem Jahr 2000 die Zahl derjenigen, die von einem mittleren Einkommen leben, rapide gesunken: von 62 auf 54 Prozent. Rund fünf Millionen Menschen sind in die Armutszone abgerutscht “ also in einen Bereich, in dem man mit weniger als 70 Prozent des durchschnittlichen Einkommens leben muss.
Als eine Ursache benennen die Wirtschaftswissenschaftler wenig überraschend die Hartz-IV-Reform. Wer heute seine Stelle verliert, gehört morgen schon zur Unterschicht. Viel wichtiger aber sei die veränderte Struktur der Erwerbsarbeit. Die Zahl der Vollzeitbeschäftigten schrumpfe kontinuierlich, während Teilzeitarbeit und geringfügige Beschäftigung kontinuierlich zunähmen.
Selbst ein Job im öffentlichen Dienst “ über Generationen hinweg Garantie für ein krisensicheres Einkommen “ reicht oft nicht mehr aus, um über die Runden zu kommen. Nach Auskunft des Bundestags sind derzeit 180.000 Beschäftigte im öffentlichen Dienst auf zusätzliche Leistung durch Hartz IV angewiesen, da sie von ihren Einkünften nicht leben können. Dazu gehören junge Lehrer, denen nur eine halbe Stelle (700 bis 800 Euro Monatsgehalt) angeboten wurde. In ihrer „Freizeit“ arbeiten sie dann als Pizzabote oder Taxifahrer.
Manche arbeiten rund um die Uhr und verdienen trotzdem sehr wenig. So nimmt die Zahl der Selbstständigen rasant zu, vor allem in den kreativen Branchen. Doch was gut fürs Image ist, ist nicht unbedingt gut fürs Konto: Nach Angaben der Enquete-Kommission verdienen Selbstständige aus den kreativen Bereichen durchschnittlich so wenig, dass sie ihr Einkommen nicht einmal versteuern müssen. Die Frage, ob sie trotz Arbeit bereits zur Unterschicht gehören, stellen sich aber auch viele Angestellte. In Berlin kommt ein junger Busfahrer, der immerhin 41 Stunden in der Woche durch die Stadt kutschieren muss, auf 1150 Euro netto. Nicht viel für ein Monatsgehalt. Zu wenig, um eine Familie zu ernähren. Daher wundert es auch nicht, dass in der DIW-Studie vom Rückgang der klassischen Familie die Rede ist. Mehr als drei Millionen Paare mit Kindern haben sich aus der Mittelschicht verabschieden müssen. Und mehr als 400.000 Alleinerziehende bilden eine feste Größe in der sogenannten Unterschicht. Kinder stellen nach wie vor das höchste Armutsrisiko in Deutschland dar.
So könnte sich Steinmeiers Vision einer neuerlichen Vollbeschäftigung am Ende durchaus als realistische Drohung entpuppen: In Zukunft werden wir voll beschäftigt sein – und dabei immer ärmer.