Jungle World, Nr. 17, 26. April 2012
Auf so etwas hat man in Berlin lange gewartet: Endlich mal wieder eine Ausstellung, in der die Gegenkultur der 60er und 70er Jahre und ihre innovative Kunst gebührend gefeiert wird. „Pacific Standard Time. Kunst in Los Angeles 1950-1980“ ist eine große Retrospektive über die wilden Jahre an der Westküste. Künstlerische Experimente in Malerei, Performance, Fotografie und Relief wie auch Arbeiten mit explizit gesellschaftskritischem Inhalt werden hier vorgestellt. Erarbeitet wurde die Ausstellung vom Getty Research Institute (L.A.). Unverständlicherweise wird sie in Europa in nur einer einzigen Stadt gezeigt: in Berlin.
Bei dem Namen Los Angeles denken viele reflexartig nur an Hollywood, Surfer und Palmen. Als Zentrum für amerikanische Kunst aus dem 20. Jahrhundert gilt New York. Doch Los Angeles kam ebenfalls eine bedeutende Rolle zu. Beide Städte haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu Megacities der Kunst entwickelt. Denn die Stadt am Pazifik war seit dem Zweiten Weltkrieg ein Mekka für Lebenskünstler aller Art geworden, eine seltsam strukturlose städtische Agglomeration, die geradewegs in die Wüste mündete, in ihrer scheinbaren Ahistorizität und Offenheit für viele Menschen, insbesondere auch Emigranten, im guten Sinne unbestimmt, antitraditionell und dadurch anziehend wirkte. Obendrein konnte man hier mit dem guten Gefühl leben, alles, was man täte, sei nur für den Augenblick gültig. Carpe Diem! Europäische Vergangenheitsfixierung, insbesondere in Bezug auf künstlerische Traditionen, konnten in der kalifornischen Unstadt, in der jeder auf das große Erdbeben wartete, schneller als anderswo vergessen werden. Hier konnten Künstler jeden Tag vom Punkt Null an arbeiten. – Los Angeles war in den frühen vierziger Jahren sogar noch stärker als New York zu einem Mekka der europäischen Emigration geworden. The New Weimar nannte man Los Angeles daher damals. Lion und Martha Feuchtwanger, Thomas und Heinrich Mann, Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel, Alfred Döblin, Ludwig Marcuse, Bruno Frank, Hanns Eisler, Bertolt Brecht, Kurt Weill, Albert Einstein, Theodor Adorno, Arnold Schönberg, Arthur Rubinstein, Vladimir Horowitz waren vor den Nazis hierher geflohen, um nur einige zu nennen. Auch wenn Maler hier nicht dominierten, trug diese geballte Intellektualität zur besonderen kulturellen Atmosphäre in Los Angeles bei. Melancholie unter Palmen, existentielle Aufbrüche am Stillen Ozean, ständige Wandlungsbereitschaft. Postmoderne und Archaik in der Wüste: Los Angeles war die perfekte Stadt für schroffe Gegensätze, die in der Kunst ihren Niederschlag fanden.
Im ersten Teil der Ausstellung wird der Aufstieg der kalifornischen Kunstszene von 1950-1980 nachgezeichnet. Hier finden sich die Werke großer amerikanischer Künstler wie Bruce Nauman, David Hockney, Edward Kienholz oder Ed Ruscha. Ed Ruschas riesige menschenleere Tankstelle „Standard Station. Amarillo Texas“ (1963) ist eines dieser zeitlosen Meisterwerke. Beeindruckend auch Bruce Naumans frühe Arbeit „Four Corner Piece“ (1970), die sich mit Überwachungsmechanismen beschäftigt und, wie oft bei Nauman, einen sinnlich-konkreten Erfahrungsraum bietet: Der Ausstellungsbesucher muss durch ein von Kameras observiertes Minilabyrinth gehen – auf Bildschirmen, die er passieren muss, begegnet er sich selbst, von hinten aufgenommen. Die Enge der Korridore verstärkt das Gefühl der Beklemmung. In der Ausstellung sind jedoch auch Werke unbekannterer Protagonisten zu finden, die es zu entdecken gilt: Alle Spielarten der Beatnik-, Pop- und Hippiekultur bis hin zu Happening, Performance und Konzeptkunst sind hier vertreten. Großartig das psychedelisch anmutende Gemälde „Blue Planet“ (1965) von Helen Lundberg, das glatt als Plattencover für die Byrds hätte herhalten können. Auch eine Auswahl von Werken von Judy Chicago ist in der Ausstellung zu sehen. Die heute 72-Jährige ist eine der wenigen in der Ausstellung repräsentierten Frauen. Sie freut sich über ihre Teilnahme, denn „die Kunstwelt damals in Los Angeles war leider sehr maskulin dominiert“, sagt sie bei der Eröffnung. Dennoch habe man als Frau damals nirgendwo so gut Kunst wie an der Westküste machen können, denn es herrschte eine große räumliche und mentale Offenheit. Judy Chicago gründet Anfang der 70er Jahre das „Women House“ – eine Art Galerie und Projektraum zur Unterstützung von Künstlerinnen. Bei ihrem Besuch in Berlin anlässlich der Eröffnung der Ausstellung, sagt sie, ihr käme es vor, dass in Berlin heute die Atmosphäre so sei wie damals in Los Angeles. Eine große, unordentliche unübersichtliche Stadt, bezahlbar, und mit viel „open space“.
Der damals in der Anti-Vietnam-Bewegung aktive Künstler Sam Francis hat der Stadt Berlin mit seinem riesigen Wandgemälde „Berlin Red“ (1969-70) ein Denkmal gesetzt – große, mal aggressiv, mal hedonistisch daherkommende Farbcluster prägen das Bild. Der Künstler, der 1992 den lukrativen Auftrag, für den Deutschen Bundestag in Bonn ein Wandgemälde zu malen, ablehnte, engagierte sich bis zu seinem Tod 1994 neben seiner Kunst für Umweltpolitik und gründete 1987 das Sam Francis Medical Research Center, das Ursachenforschung bei Krankheiten, die durch Umweltschädigungen entstehen, betreibt. Unheimlich ist die Installation „Volksempfängers“ (1976) von Edward Kienholz, die aus alten Volksempfängern besteht – in ihrer Fülle scheinen sie wie aus tausend Mündern zu sprechen. Der Künstler lebte 1973 als DAAD-Stipendiat in Berlin und kehrte bis zu seinem Tod im Jahr 1994 immer wieder hierher zurück.
„Grüße aus L.A.“ nennt sich der zweite Teil der Ausstellung, hier wird die Künstler- und Galerienszene der damaligen Zeit in L. A. vorgestellt. Man erfährt etwas über „Action“-Ausstellungen und die ersten Pop-Vernissagen, angepriesen mit „New Paintings of Common Objects“ – Tempo, Schnelllebigkeit und profane Alltäglichkeit waren Parameter, die dem traditionellen Verständnis von wertebasierter „Kunst für die Ewigkeit“ entgegengesetzt wurden. Für die Pop-Art war L.A. richtungsweisend, Begriffe wie „L.A. Look“ und „Cool School“ tauchten auf. Großartig sind auch die streng-minimalistischen Arbeiten von James Turrell (*1943) oder Edward Moses (*1926), die aus dem fragilsten Medium überhaupt gestaltet sind: aus Licht. Eine Stärke der Ausstellung liegt in der Präsentation der im Gropius-Bau gut zur Geltung kommenden Werken der Minimal Art.
Auf Fotos festgehalten wurden spektakuläre künstlerische Experimente wie „Sunflower“ (1967) von Mason William, eine Himmelsschreiber-Performance aus dem Apple-Valley oder das „Helicopter Sky Painting“, das flower-powerige Kondensstreifen aufleuchten ließ. In Sam Francis’ „Snow painting“ (1967) kreierten Skifahrer mit leuchtenden Fackeln im Schnee ein eindrucksvolles Gesamtkunstwerk. Diese und andere Fotos geben die flüchtigen Land Art-Experimente vieler Westküsten-Künstlercowboys wieder.
Direkt mit der Infrastruktur der Stadt setzen sich die Fotos von Dennis Hopper auseinander – durch den raschen Ausbau der Freeways genoss Los Angeles in den späten 50er und frühen 60er Jahren den Ruf einer von Autos statt von Menschen entworfenen Stadt. Hopper fotografierte die Stadt aus dem motorisierten Untersatz heraus, was den Fotos eine eigentümliche Perspektive verleiht. In die gleiche Richtung der ironischen Affirmation der Klischeevorstellungen von L.A. geht David Hockney mit seinem zur L.A.-Ikone gewordenen Gemälde „A Bigger Splash“ (1967). Vor einem aseptisch daherkommenden Bungalow mit Swimming Pool und Sprungbrett spritzt eine Wasserfontäne hoch: Dieser „Splash“ scheint die einzige Bewegung auf dem Gemälde zu sein, ansonsten herrscht Totenstille. Robert Graham baut Beach-Szenerien mit nackten Frauen en miniature in Vitrinen nach: musealisiertes Leben im Glashaus. Karl Benjamin gelingt es, das Hollywood-Image von L.A. in seinem in schrillen Farben gehaltenen Gemälde „Stage II“ (1958) in eine abstrakte Formensprache umzusetzen.
Die Abteilung „Public Disturbances“ ist damaligen Ausstellungen gewidmet, die zu heftiger öffentlicher Kritik und teilweise zu Verhaftungen einzelner Künstler führten. Ein Plakat in der Ausstellung zeugt vom politischen Engagement der Künstler aus L.A. damals: „The „Angry Arts“ against the war“ steht über der Aufforderung, an einem Peace Walk in La Cienage & Melrose teilzunehmen. Der Maler Irving Petlin wurde während seines Aufenthalts in Paris zu Zeiten des Algerienkriegs politisiert. Zurück in L.A. gründete er das „Artists’ Protest Committee“ (APC). Bis auf die Los Angeles Free Press ignorierten alle Medien die Aktionen der Künstler gegen den Vietnam-Krieg. Um stärker auf sich aufmerksam zu machen, bauten die Künstler einen „Artists’ Tower auf Protest“ aus Schrottteilen in der Nähe vom Sunset Boulevard. Den Turm umgaben über 400 bedeutende Werke bildender Kunst, u.a. von Frank Stella und Roy Lichtenstein. Der Protestturm und das Gelände wurden über drei Monate Zentrum vieler gewalttätiger Auseinandersetzungen. Fast jede Nacht gab es Versuche, den Turm, die Kunstwerke und ein Schild „Künstler protestieren gegen den Vietnamkrieg“ zu zerstören. Nun berichtete das Fernsehen unablässig über die Aktionen.
Die Ausstellung „Directions in Collage“, 1962 von Walter Hopps kuratiert, rief ebenfalls eine Welle der Entrüstung hervor. Mitglieder der American Legion und der Veterans of Foreign Wars fielen wütend über das Museum her. Besonders empörten sie sich über die Collage „Macks“ (1962, von George Herms), in der eine zerfledderte und dreckige amerikanische Flagge neben einem Fahrradschlauch und einigen verrosteten Werkzeugen zu sehen war. Obwohl das Museum sich hinter den Kurator stellte, brach ein Vandale in das Gebäude ein und riss die Flagge aus dem Kunstwerk. Massiven Protest rief auch das Plakat hervor, mit dem für die Ausstellung „War Babies“ geworben wurde: Die vier beteiligten Künstler sitzen an einem Tisch und essen. Jeder von ihnen verspeist genau das, was dem Klischee in Bezug auf ihre Herkunft entsprechen würde: Der afroamerikanische Künstler Ed Bereal isst ein Stück Wassermelone, der jüdische Künstler Jerry Bell einen Bagel, der asiatische Amerikaner Miyashiro hält Stäbchen in der Hand, der irischstämmige Joe Goode macht sich über eine Makrele her. Als Tischtuch für das multiethnische Dinner dient eine amerikanische Flagge. Das Foto erschien just zu der Zeit, als die berüchtigten Anhörungen des Komitees für unamerikanische Umtriebe Kalifornien heimsuchten. Über das Foto entbrannte eine wütende Kontroverse, die deutlich machte, wie ubiquitär der Rassismus noch verbreitet war, auch am „liberalen“ Pazifik. Die Huysman Gallery musste sogar in Folge dessen schließen. Vergeblich versuchte der Kurator Hopkins zu erklären, wie perfide es sei, dass sich niemand über dieses Foto aufgeregt hätte, wenn hübsche junge Cheerleaderinnen die amerikanische Flagge befleckt und mit Krümeln übersät hätten.
Der letzte Teil der Ausstellung ist dem Fotografen Julius Shulman gewidmet, dem bedeutendsten Architekturfotografen der amerikanischen Nachkriegsgeschichte. In der Ausstellung sind nicht nur Fotos berühmter Bauten von Architekten der Moderne wie Frank Lloyd Wright, Frank Gehry oder Richard Neutra zu finden, sondern auch weniger bekannter, eigentümlicher Werke – Warenhäuser, Tankstellen, Hotels – , die, leider zum Teil schon abgerissen, in L.A. und Umgebung erbaut wurden, und zum Teil faszinierend aussehen – sowie das ufo-artige Objekt „Chemosphere“ aus dem Jahr 1960. Die strengen schwarz-weiß-Fotos der verrückten Bauten verweisen wieder auf das spannende Oszillieren der Stadt Los Angeles zwischen Profanität und kreativer Utopie.
Nach diesen vielen schönen Rückblicken wird man nostalgisch und fragt sich nur: Was ist mit der Kunst in Los Angeles und Umgebung nach dem Ende der Siebziger Jahre passiert?
„Pacific Standard Time. Kunst in Los Angeles 1950 – 1980“, Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, 10963 Berlin. Bis 10. Juni 2012.