In Deutschland zeichnet sich eine paradoxe Situation ab: Da wird über die demografische Kurve geklagt und das Aussterben der Deutschen heraufbeschworen . Die wenigen Kinder, die es gibt, werden zum Teil in übertriebener Weise zur Schau gestellt und verhätschelt. Ratgeber über Ratgeber werden geschrieben, um jeden Aspekt ihres Daseins zu beleuchten. In manchen Stadtteilen wie Berlin-Friedrichshain oder München-Schwabing mutieren Kinderbekleidungsgeschäfte zu Luxusboutiquen, an nichts darf es dem kostbaren Nachwuchs fehlen. Und natürlich präsentieren Celebrities wie Heidi Klum überall stolz ihre Kinder wie besondere Accessoires.
Doch diese punktuelle Auratisierung von Kindern und Kindheit kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass hierzulande zentrale Belange von Kindern und Jugendlichen, von vernünftigen Betreuungs- und Bildungseinrichtungen bis hin zu Ausbildungsplätzen, äußerst stiefmütterlich behandelt werden. Die Grundhaltung des Staates scheint nicht mit seiner immer wieder pathetisch ausgerufenen Sorge um den mangelnden Nachwuchs – um „die Zukunft unseres Landes“ – zu korrespondieren.
Unlängst hat eine OECD-Studie wieder belegt , wie obsolet Deutschlands Versuch ist, Anreize zur Familiengründung zuvörderst über steuerliche Vorteile zu bieten anstatt Familien konkret mit Sachleistungen zu unterstützen und qualitativ zufriedenstellende Kinderbetreuungskapazitäten zu gewährleisten.
Denn heutzutage stellt sich die Frage nach dem mütterlichen Arbeitsengagement nicht mehr nur aufgrund von emanzipatorischen Aspekten: Europaweit sind in fast allen Familien zwei Ernährer vonnöten, um über die Runden zu kommen. Insbesondere in Deutschland ist die Reallohnentwicklung seit Langem rückläufig während die Lebenshaltungskosten deutlich gestiegen sind. Nur wenige Familien können auf das Alleinernährer-Modell zurückgreifen.
Hinter dieser anhaltenden Missachtung der zentralen Belange von Kindern und Jugendlichen steckt eine tradierte Geringschätzung der gesamten „infantilen Sphäre“ : Ein Kinderarzt verdient weniger als ein Arzt für Erwachsene, obwohl die Ausbildung nicht weniger umfangreich ist.
Sobald das Wort „Kind“ in Berufsbezeichnungen auftaucht oder implizit gemeint ist, scheint einem Beruf etwas Zweitklassiges anzuhaften. So als ob jemand hierfür eine kürzere Ausbildungszeit absolviert hätte – was nicht stimmt. Ob Kindertheater- oder Kinderboutique-Besitzer: Die jeweilige Arbeit gilt immer als weniger seriös oder anspruchsvoll als ihr Pendant für die Erwachsenen.
Ebenfalls Ausdruck dieser Geringschätzung ist das geringe gesellschaftliche Ansehen von Erzieherinnen und Erziehern: Der Beruf ist sehr schlecht bezahlt und besitzt keinerlei Prestige . Das Gehalt vieler junger Erzieherinnen und Erzieher liegt in den ersten Jahren bei unter 1000 Euro im Monat.
Der Staat freut sich angeblich über jedes Neugeborene und prämiert es sogar, aber was danach mit den Kindern passiert, scheint nicht weiter von Belang zu sein: Überall fehlt es an Kitaplätzen, allein in Berlin fehlen 15.000. Viele Kitas stehen im Moment vor dem Bankrott, die Betreuungsschlüssel können oft wegen der hohen Krankenstände und fehlendem Personal nicht eingehalten werden: Auch in den sogenannten familienfreundlichen Bezirken werden dann 24 Kleinkinder von einer (überforderten) Erzieherin betreut, Weihnachts- und Osterfeiern wegen Personalmangel zur Enttäuschung der Kleinen abgesagt, Eltern ständig zusätzlich von der Kitaleitung zur Kasse gebeten. Hochtrabend klingelnde „pädagogische Ziele“ der Kita oder des Kita-Verbandes dienen nur noch zur Deko der Website.
Der staatlichen Missachtung stehen umgekehrt die Eltern gegenüber, die sich für ihren kleinen Liebling „nur das Beste“ wünschen und voller Sorge sind, ob die Person, die nun über viele Stunden am Tag ihr Kind betreut, dafür wohl geeignet ist. Nun wird auch noch ernsthaft die Idee diskutiert, Quereinsteiger mit einer Schnellausbildung zu Erziehern umzufunktionieren. Wer auf diese Idee gekommen ist, hat keinerlei Respekt vor der anspruchsvollen Arbeit, die Erzieherinnen und Erzieher täglich leisten müssen. Offenbar hat sich bei den Verantwortlichen die Erkenntnis noch nicht durchgesetzt, dass Kitas nicht nur Verwahrungsorte, sondern wichtige Bildungseinrichtungen sind und Orte, an denen Kinder in ihrer sensibelsten Lebensphase adäquates Sozialverhalten erlernen können.
Wenn man in Deutschland das Gefühl bekommt, dass Kinder eigentlich nur Beiwerk sind, für die nur das Nötigste in Frage kommt und die auch problemlos den ganzen Tag unzureichend ausgebildeten, schlecht bezahlten Erziehern anvertraut werden können, kann es nicht überraschen, dass diese Haltung unterschwellig auch von vielen Männern und Frauen im geburtsfähigen Alter übernommen wird. In solch einem gesellschaftlichen Klima denken offenbar einige von ihnen: Wir könnten jetzt ein Kind bekommen, aber warum sich jetzt unnötig „Stress“ um Zweitrangiges machen, erstmal kümmern wir uns um die „wichtigsten“ Dinge im Leben: um unsere Arbeit, den beruflichen Aufstieg, Eigenheim, etc. etc.
Ein Leser schrieb zu einem verwandten Thema folgenden Kommentar: „Kinder kosten Geld und es kommt nichts zurück – am Ende werde ich noch von meinen eigenen Kindern entmündigt und ins Altersheim verfrachtet: ein Verlustgeschäft also! Wer kann sich denn heute noch Verlustgeschäfte leisten?“
Früher, vor Bismarcks Sozialgesetzen, bekamen Paare nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen Nachwuchs: Zur Sicherung der Altersvorsorge und um im Fall sozialen Abstiegs von der heranwachsenden Generation aufgefangen zu werden. Kinder sollten auch Höfe, Geschäfte und Firmen weiterführen. Heute, in einer Zeit, in der durchschnittliche Arbeitnehmer in Deutschland ihren Arbeitgeber im Laufe ihres Erwerbslebens siebenmal wechseln (USA: elfmal) und nicht mehr 30 Prozent, sondern nur noch drei Prozent aller Deutschen in der Landwirtschaft arbeiten, hat der Wunsch nach Übernahme von Haus und Hof oder der familieneigenen Firma stark nachgelassen. Heute gefährdet Nachwuchs paradoxerweise eher die ökonomische Situation des Paares.
Jungen Menschen im gebärfähigen Alter werden zwei widersprüchliche Botschaften vermittelt : Einerseits sollen sie Kinder, am Besten mehrere, bekommen, gleichzeitig sollen sie beruflich erfolgreich, stets leistungsbereit, flexibel, ständig verfügbar, belastbar und mobil sein. Der zunehmenden Ökonomisierung der Privatsphäre stehen Kinder aber gegenüber. Ein neoliberaler Lebensstil und Kinder passen nicht zusammen. Die Werte, die die Propagandisten einer neoliberalen Wirtschaftsordnung vertreten, sind nicht mit dem Maß an Muße, Zeit und an geographischer und emotionaler Verfügbarkeit in Übereinstimmung zu bringen, das Kinder von ihren Eltern einfordern und brauchen.
Wenn Sex die schönste Nebensache der Welt ist, dann sind Kinder in diesem Land vielleicht die niedlichste Nebensache der Welt. Und mehr nicht. Und dann braucht sich auch kein Politiker zu wundern, warum die demografische Kurve so ist, wie sie ist.