Auch nach fünfzig Jahren ist Rolf Dieter Brinkmanns Lyrik noch aufsehenserregend
Endlich ist er mit fast 50jähriger Verspätung erschienen: der Gedichtband »Vorstellung meiner Hände« des ersten deutschsprachigen Popliteraten, Rolf Dieter Brinkmann. 1963 geschrieben, hätte er eigentlich das Debüt des Autors werden sollen. Doch Brinkmanns Gedichte irritierten damals zu sehr, ihr Klang war zu ungewohnt, sie wurden nicht gedruckt, denn sie unterschieden sich von allem, was damals – vor 1968 – hierzulande als Lyrik galt. Schon Titel wie »Fall Out«, »Vertanes Gedicht« oder »Die hohen Feste des Luis Buñuel«, »Die Bombe in meinem Kopf«, aber auch »Ihre schönen Knie« machen deutlich, dass hier ein junger Lyriker einen unbekannten Ton anschlägt, dass er die Alltagssprache dem »hohen Ton« vorzieht und auch vor politischen Stellungnahmen nicht zurückschreckt.
Brinkmann wurde 1940 in Vechta (Niedersachsen) geboren, er lebte ab 1962 in Köln, absolvierte ein Pädagogikstudium, war hauptberuflich ebenso freier Schriftsteller wie Rebell. Nicht deutsche Dichter und Denker, sondern US-amerikanische Literatur-Avantgardisten wie Frank O’Hara oder William Carlos Williams lieferten Anregungen für seine Gedichte. Die amerikanische Underground-Lyrik machte er in Deutschland bekannt: Seine zusammen mit Ralf-Rainer Rygulla herausgegebene Anthologie »Acid. Neue amerikanische Szene« (1969) zählt bis heute zu den wesentlichen Zeugnissen der amerikanischen Beat Generation. Auf seine eigene Lyrik haben sich immer wieder junge Gegenwartsautoren bezogen, insbesondere sogenannte Poetry-Slam- und Pop-Autoren. Doch aus heutiger Sicht sind Brinkmanns Gedichte viel ernster und aufwendiger komponiert als die vieler seiner Nachfolger. Das gilt auch schon für den nun vorliegenden ersten Band von Brinkmann.
Wenn man Brinkmanns frühe Gedichte liest, merkt man, welchen Bedeutungswandel der Begriff Pop seither durchgemacht hat. Früher stand Pop für das Gegenteil von Pomp und Pathos: Die amerikanischen Autoren, wie Frank O’Hara mit seinen Alltagsminiaturen und seiner unprätentiösen Sprache, machten vor, wie man statt über große Themen über kleine Alltagserlebnisse, über Momentaufnahmen schreibt. Pop feiert das Alltägliche und Banale – nicht etwa den Rausch und die Party (also gewissermaßen wieder das Extraordinäre) wie die hedonistisch gestimmten Pop-Autoren der neunziger Jahre.
Brinkmanns Gedichte sind Momentaufnahmen, denen aber auch ein universales Moment, etwas Existenzielles, anhaftet. Während viele zeitgenössische Lyriker das Selbst als Ausgangs- und Endpunkt ihrer Poesie betrachten, schweift Brinkmann aus und kehrt als ein Anderer zurück. In manchen Zeilen spürt man zwar die Zweifelsfreiheit der damaligen Zeit: »Wer Besitztümer hat, ist immer im Unrecht«, heißt es da in einem Gedicht. Doch Brinkmanns Werk ist vielschichtiger als beispielsweise die populäre Lyrik Erich Frieds, die mit ihrer schlichten Gut-oder-Böse-Logik massentauglich war.
Immer wieder finden sich humoreske Zeilen in Brinkmanns ebenso rebellischer wie sehnsuchtsvoller Poesie: »Die Vögel kehrten aus der Luft zurück und besuchten die Kneipen, wo sie zechten bis zum Abend«, heißt es an einer Stelle. Doch das Gedicht endet melancholisch – mit dem Eskapismus von Liebenden.
Brinkmann feiert den Verfall, das Antipoetische, und benennt sein Vorgehen direkt: »Ich will loben, was keiner im Gedicht zu loben bereit ist, die Leukämie den Haarausfall.«
Verlust und Tod sind stets präsent – das Leben stellt sich dar als ein »Gemisch träger Geilheit und willigen Sterbens«. Wie Leitmotive tauchen die »andere Seite des Mondes« und eine Stille auf, die »schwarz wird«. Hier ist kein dialektisches Denken, sondern eher ein dialektisches Fühlen am Werk – ein Leben in einem ständigen Dazwischen, aufgehoben im Scheinwerferlicht des Moments: »Erotik ist eine Form von Eskapismus: Arm in Arm/und Atem an Atem gedrängt/wir lassen die Welt Welt sein/und treiben dahin/holen aus den Leibern der Frauen/die scheuen Tiere/die Nachttiere, die dunklen/und geben sie frei.« Und Eskapismus ist eine Vorstufe zum ewigen Verschwinden, zur Vergänglichkeit: »das hat nichts mehr/zu tun mit Eichendorff/auch nichts mit Poesie/es soll Vergänglichkeit sein.« Brinkmann wurde am 23. April 1975 in London von einem Auto überfahren.
Rolf Dieter Brinkmann: Vorstellung meiner Hände. Frühe Gedichte. Rowohlt, Hamburg 2010, 96 Seiten, 16 Euro