veröffentlicht im Deutschlandradio, Mai 2014
Schon wieder soll Deutschland zahlen, ein neues Hilfspaket für Griechenland steht kurz bevor. Die anderen leben über ihre Verhältnisse, und am Ende müssen wir die Zeche übernehmen. So ähnlich lauten die Urteile, die sich seit der Eurokrise eingebürgert haben – und so unbeliebt wie heute war der Gedanke an die europäische Integration wohl noch nie.
Dabei gibt es kaum ein EU-Mitglied, das ökonomisch so vom vereinten Europa profitiert hat wie Deutschland. Der gemeinsame Binnenmarkt ist für Deutschland eine Erfolgsgeschichte: Seit Jahren boomt die Wirtschaft, die Arbeitslosigkeit sinkt, die Steuern sprudeln. Noch nie kamen so viele Hochschulabsolventen aus anderen europäischen Ländern, um hier einen Job zu suchen. Auch sie tragen dazu bei, dass unsere Sozialsysteme künftig finanzierbar sind.
Und dennoch jammern viele Deutsche, als würde das Land kurz vor der Pleite stehen. Nur wenige scheinen die Reziprozität der Vorgänge zu verstehen: Das deutsche Exportwunder würde es nicht geben, wenn sich nicht unzähligen Länder verschuldeten, um „Made in Germany“ zu kaufen. Und die Regierung in Berlin verschenkt kein Geld an verantwortungslose Südeuropäer, sondern vergibt Kredite.
Die Vorteile der transnationalen Gemeinschaft nimmt man selbstverständlich in Anspruch, die Nachteile hingegen werden national aufgerechnet. Es ist so, als wolle man die Vorzüge der Wiedervereinigung genießen und gleichzeitig die Mauer beibehalten. Europa ist gut, so lange es uns Geld einbringt. Wenn nicht, dann sollen die Griechen, Spanier oder Portugiesen eben sehen, wo sie bleiben.
Nicht anders ist der nationalistische Populismus zu verstehen, der nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Ländern Europas grassiert, wie sich an dem Erfolg von Parteien wie den Wahren Finnen, den Schwedendemokraten, dem Vlaams Belang, der Partij voor de Vrijheid in den Niederlanden, der polnischen Bauernpartei oder der ungarischen Jobbik-Partei ablesen lässt. Sie befördern ein Europa der Partikularinteressen, ihr Weltbild ist vormodern. „Das Aufkommen des Populismus ist heute die bedrohlichste soziale und politische Erscheinung in Europa“, meinte kürzlich der italienische Ministerpräsident Enrico Letta in der „New York Times“ und auch der deutsche Europapolitiker Elmar Brok sieht „die braune Soße ziemlich nahe“. Die Rechtspopulisten setzen auf die Karte Heimat, Verwurzelung, Identität. Doch ein transnationales politisches Gebilde wie die EU muss nicht „kalt“ und identitätslos“ sein, wie gern von ihnen suggeriert wird. Denn die Regionen, die Identität und kulturelle Zugehörigkeit symbolisieren, könnten aufgewertet werden und ein ausgleichendes Gewicht zu Brüssel bilden. Beide sollten sich ergänzen, ohne dass man wieder Grenzen und Mauern ziehen muss. Um identitäre Zugehörigkeit zu empfinden, muss man nicht im nationalstaatlichen Denken des vorherigen Jahrhunderts verhaftet bleiben.
Es kann einen wütend machen, dass hundert Jahre nach Beginn des 1. Weltkriegs nationalistische Ideologien in ganz Europa wieder derart Zulauf erhalten. Dabei haben solche Ideen den Kontinent in die größten Katastrophen des 20. Jahrhunderts gestürzt. Es ist grotesk, ausgerechnet im Nationalen die Antwort auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu suchen.
Zwei Optionen bieten sich derzeit an: Entweder werden die Nationalstaaten in einem gemeinsamen Europa integriert – was nur funktioniert, wenn es langfristig eine einheitliche Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik sowie mehr juristische Übereinstimmung gibt. Oder disparate nationalstaatliche Interessen werden Europa dominieren – und damit perspektivisch der Union keine Chance geben. Ein gespaltenes, zerstrittenes Europa würde aber in der künftigen Weltordnung keine große Rolle mehr spielen. Es wäre nur eine Ansammlung kleinerer Staaten.
© Tanja Dückers, Mai 2014