Kein Grund Zensuren zu verbrennen

Ein Berliner Vater fordert dazu auf, Zeugnisse zu rauchen. Eine groteske Forderung, aber auch andere Eltern fragen sich: Schaden Noten unseren Kindern?

Das Ganze klingt reichlich absurd: Deutschlandweit sollen Schüler im Rahmen einer „Schulzeugnis-Demo“ ihre Zeugnisse aufrollen, anzünden und in Rauch aufgehen zu lassen. Denn: „Du bist nicht Deine Schulnoten“. Es sei falsch, „Noten als Druckmittel zu nutzen, weil eine Note keine Auskunft über die Fähigkeiten eines Menschen gibt und somit völlig ungerecht ist. Die Angst vor schlechten Noten ist aber nur in unseren Köpfen. Wenn wir uns davon befreien, sind wir auch wieder frei, um wirklich für das Leben zu lernen“  – so die Erklärung auf der Website zur Demo. Hinter dieser ebenso drastischen wie utopisch anmutenden Aktion steht eine Berliner Initiative, die sich Leonidas-Net-Stiftung nennt und mit unschulbar.net eine Kampagnenseite ins Netz gestellt hat. Urheber ist ein Berliner Vater von vier Kindern.

So grotesk und pubertär dieser Fall wirkt, kommt er jedoch nicht ganz von ungefähr: Er steht exemplarisch für den seit langer Zeit gärenden Unmut vieler Eltern über die große Macht, die Noten über Chancen und Erfolg von jungen Menschen haben. Seit Jahren wird eine verbissene Debatte über den Sinn und Nutzen der Notenvergabe in der Grundschule geführt. Der renommierte Schweizer Kinderarzt Remo Largo, der Grundschulpädagoge Hans Brügelmann und der (2011 verstorbene) Kindertherapeut Wolfgang Bergmann sprechen sich gegen die Notenvergabe an Grundschulen, zum Teil auch in den unteren Klassenstufen weiterführender Schulen, aus. „Schüler brauchen keine Pauschalbewertungen, sondern differenzierte Rückmeldungen“, ist eine bekannte Aussage von Brügelmann. Und auch wenn man den Namen Richard David Precht langsam nicht mehr hören kann, hat er doch mit seinem schul(noten)kritischen Bestseller  „Anna, die Schule und der liebe Gott. Der Verrat des Bildungssystems an unseren Kindern“ wieder einmal den Nerv der Zeit getroffen.

Die Debatte, ursprünglich in den Siebziger Jahren im Zuge der Bildungsreform angestoßen, gewann an Schärfe, als Deutschland bei der ersten PISA-Studie nur mäßig abschnitt. Viele der in den PISA-Studien erfolgreichen Länder führen die Notenvergabe erst in viel höheren Klassenstufen als die deutschen Bundesländer ein. In Deutschland ist das Schulwesen Ländersache, Noten werden meist ab der dritten Klasse vergeben. In den skandinavischen Ländern, die in Schulleistungsvergleichen regelmäßig sehr gut abschneiden, wird bis zur achten Klasse auf Noten verzichtet. In Finnland, dem Land, das nach wie vor unangefochten an der Spitze in Sachen Bildung steht, legen die Schüler die ersten verbindlichen Tests erst mit 16 Jahren ab. Damit ist zwar kein Kausalzusammenhang bewiesen, wohl aber, dass Schulen ohne Benotung effizient sein können. Als Gegenbeispiele lassen sich einige asiatische Länder aufführen, die mit Notensystem und Ziffernzeugnissen in internationalen Vergleichen ebenfalls sehr gut abschneiden.

Es ist daher zweifelhaft, ob die Vergabe von Noten überhaupt eine Rolle bei den Ergebnissen von Leistungstests spielt. Entscheidend scheinen vielmehr kleine Klassen, eine intensive Förderung leistungsschwacher Schüler, motivierte Lehrer und eine allgemeine hohe Wertschätzung von Schule und Bildung zu sein. In den skandinavischen Schulen ist die Zahl des Lehrpersonals pro Jahrgangsstufe deutlich höher, Überlastung von Lehrer tritt dadurch seltener auf. Zudem ist der gesellschaftliche Status von Lehrern sehr hoch: es ist zum Teil schwerer, einen Lehramts-Studienplatz zu erhalten als einen für ein Jura oder Medizin. In vielen asiatischen Kulturen, gerade in Schwellenländern, wird wiederum allgemein gesellschaftlich ein sehr hoher Wert auf die Ausbildung der Kinder gelegt, wodurch die Leistungsbereitschaft der Schüler deutlich ausgeprägter ist.

Gegen Schulnoten spricht dennoch, dass sie ihrem inhärenten Objektivitätsanspruch nicht gerecht werden. Denn die Vergabe erfolgt oft willkürlich. In einer deutschlandweiten Studie aus dem Jahr 1999 wurden derselbe Deutschaufsatz und dieselbe Mathearbeit (!) von verschiedenen Lehrern mit Noten zwischen „sehr gut“ und „mangelhaft“ beurteilt. Über 1000 Lehrer verschiedener weiterführenden Schulen nahmen an der Studie teil. Im Rahmen einer IGLU-Studie (IGLU ist die deutsche Abkürzung für Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) konnte bewiesen werden, dass es zwar einen Zusammenhang zwischen Note und Leistung gibt, dieser aber nur unzureichend ist.

Die Kritik an der notenbasierten Leistungsbeurteilung, insbesondere in der Grundschule, ist allemal nicht unberechtigt. Aber eine Initiative, die zum Abfackeln der Zeugnisse aufruft, betreibt nur effekthascherische Schüler-Anbiederung. Mit dieser juvenilen Generalattacke gegen Schule und Lehrer kommt man nicht weit.

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