Selten ist ein Buch so schnell geschrieben und übersetzt worden wie »Majdan! Ukraine, Europa«. Die Mehrzahl der Essays und Erfahrungsberichte entstand zwischen Ende November 2013 – also nach der Ablehnung des EU-Assoziierungsabkommen durch den damaligen ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch – und Februar 2014. Alle Texte kreisen um die Frage: Wie ist die gegenwärtige Lage in Kiew, in der Ukraine zu beurteilen? Dabei ergänzen sich sehr subjektiv gehaltene Beiträge und politische Analysen über die Machtverteilung im eurasischen Raum.
Die Auswahl der Autoren überzeugt: Neben bekannten ukrainischen Publizisten wie Maria Matios, Zerhij Zhadan oder Jury Andrychowitsch finden sich prominente Stimmen aus Polen (Adam Michnik), Deutschland (Rebecca Harms), Österreich (Martin Pollack), Großbritannien (Timothy Garton Ash) und den USA (Timothy Snyder).
Im Vorwort machen die Herausgeber Claudia Dathe und Andreas Rostek ihre Haltung deutlich: Der Majdan ist nicht mit dem Wenzelsplatz in Prag oder dem Karl-Marx-Platz in Leipzig zu vergleichen. Er war nicht Schauplatz einer friedlichen Revolution, sondern hier wurden Menschen umgebracht. Russland spielt eine sehr unrühmliche Rolle als Schutzmacht eines kriminellen Clans, der die Ukraine regierte. Die Herausgeber beklagen, dass Europa erst nach Dutzenden von Toten aktiv geworden ist. Schon der Titel »Majdan! Ukraine, Europa« macht deutlich, wie sehr den Westen das, was in Kiew stattfindet, angeht.
Den Auftakt des Bandes bilden Meldungen, die den Leser unmittelbar an den Ereignissen teilhaben lassen. So gibt Andrij Vovk aus Kiew zu Protokoll: »Ein Finger. Von einer Hand abgerissen. Er liegt direkt vor meinen Füßen. Gellende Schreie und leises Wimmern. Anhaltendes Donnern von Blendgranaten. Ukrainische Polizisten erschießen ukrainische Bürger. Nur fünfzehn Meter von mir entfernt hat eine Granate einem Majdanler die Hand abgerissen. Auf einer Trage wird er fortgebracht. Beißender Rauch, Ruß, Molotow-Cocktails, zwei betende ältere Frauen, die ein großes Marienbild als Schutzschild vor sich halten. Ihre Gebete: eine kleine Tonspur in der gewaltigen Geräuschkulisse.«
Swatoslaw Wakatschuk, Sänger der Band »Okean Elzy« aus Kiew, ärgert sich über das von den Russen geschürte und von westlichen Medien gern wiederholte Vorurteil, die Majdan-Bewegung werde von Rechtsextremisten dominiert: »Auf dem Majdan stehen jetzt Tausende Menschen – alte Männer und Frauen, Studenten, kultivierte Frauen in teuren Mänteln, Geistliche, Menschen verschiedenen Glaubens und verschiedener Nationalität. Und sie alle sollen Extremisten sein?« Switlana Oleschko, Theaterregisseurin aus Charkiw, berichtet über staatlich angeheuerte Schläger: »Die Polizisten und die illegalen Schlägertrupps arbeiten offen zusammen, ihre gemeinsame Arbeit zielt auf Ermordung der Demonstranten, sie werfen Molotow-Cocktails, die sie mit Nägeln umwickelt haben. Sie werfen auf Frauen und Kinder.«
Während in deutschen Medien davon die Rede ist, dass die westliche Politik sich aus der Ukraine heraushalten soll, wenden sich viele Autoren gerade an den Westen. So schreibt Halyna Kruk aus Lwiw (Lemberg): »Ich (…) hab getan, was ich konnte: Schnee geschippt, Suppe gekocht, mit den Leuten geredet. Ich möchte von den Europäern nicht falsch verstanden werden, denn wir werden von den Bürgern Europas stark unterstützt und sind dafür dankbar, aber das politische Europa zeigt nichts als tiefe Beunruhigung und erteilt Mahnrufe zur Versöhnung.« Der Schriftsteller Olexandr Sukola aus Charkiw, Ende der achtziger Jahre geboren, ist von Europa enttäuscht, räumt aber ein, dass die Situation in der Ukraine kompliziert ist. »europa versteht uns also nicht«, so sein in dem Band veröffentlichter Facebook-Eintrag, »das kapiert doch keiner, was hier abgeht, und wer’s kapiert hat, vergisst’s auch gleich wieder. keine revolution, sondern feuer und schwert. kosakenaufstand im 21. jahrhundert. nur mit internet.«
Über die politischen Strukturen in der Ukraine, über Korruption und Misswirtschaft, erfährt man Unglaubliches: Resigniert schreibt die Schriftstellerin und Übersetzerin Halyna Kruk aus Lwiw: »Die ganz mit ihrem physischen Überleben befassten Menschen haben mitunter nicht die leiseste Ahnung, dass Einschüchterung und erzwungene Wahlbeteiligung, das Verbot unabhängiger Medien, der Kauf von Stimmen gegen Lebensmittelpakete und andere Spielchen der Oberen eine Verletzung ihrer bürgerlichen Rechte und Freiheiten darstellen.« Der Schriftsteller und Essayist Andrij Ljubka berichtet anschaulich über die allgemeine Stagnation: »In den nun mehr als zwanzig Jahren Unabhängigkeit hat sich auch nichts an der kommunalen Infrastruktur verändert. Rohre, Heizwerke, Wasserpumpstationen, Krankenhäuser, Schulen, Polizeistationen, alles ist geblieben, wie es war. Selten wird mal was instand gesetzt. Alles bröselt, zerbricht und verfällt. Im Winter wirkt jeder Ort in der Ukraine wie ein Thermalheilbad. Aus geplatzten Wasserrohren steigt heißer Dampf auf, während es in den Wohnungen kalt bleibt. Nur 10–20 Prozent der Fernwärme kommen überhaupt in den Heizkörpern an. Es ist fast überflüssig zu erwähnen, dass man dennoch 100 Prozent bezahlt. Diese sinnlose, ukraineweite Verschwendung von Ressourcen macht das Land zum Vasallen russischer Gaslieferungen. Das ist Russland nur recht (…).«
Man erfährt auch Absurdes über die Sicht auf den Westen: »Im Vorfeld des EU-Gipfels in Vilnius wurden abartige Behauptungen verbreitet: Käme es zu einem Assoziierungsabkommen mit der EU wären die Leute binnen kurzem ohne Arbeit und ihre Kinder würden zur Homoehe gezwungen werden.«
In diesem vielstimmigen Band lesen sich viele Beiträge wie Fragen und Antworten aufeinander. Orlando Figes, Professor für russische Geschichte in London, antwortet indirekt auf einige Beiträge, in denen große Hoffnungen auf Europa zum Ausdruck kommen. »Brüssel wird sich kaum zu einer grandioseren Vision verpflichten, wie sie manche Ukrainer hegen. Es wird kein visafreies Reisen für Ukrainer geben, geschweige denn eine EU-Mitgliedschaft für die Ukraine. Die Ukraine ist zu groß und zu arm, um von der Europäischen Union integriert zu werden.« Er empfiehlt, sich ein Vorbild an der Tschechoslowakei zu nehmen, die sich nach einem Referendum im Jahr 1993 – ohne Einmischung von außen – friedlich in die tschechische und slowakische Republik teilte. Beide Länder unterhalten heute nach der sogenannten »samtenen Scheidung« äußerst freundliche bilaterale Beziehungen. Den grundlegenden außenpolitischen Kurs – EU-Assoziierungsabkommen oder Partizipation an der Eurasischen Union – sollten nach Meinung von Figes die Bürger in der Ukraine per Referendum selbst festlegen.
Was in dem Band nicht zu finden ist, sind prorussische Stimmen. Anhänger von Putin kommen hier nicht zu Wort. Das war aber auch erklärtermaßen nicht die Absicht dieser höchst lesenswerten Anthologie.
Claudia Dathe und Andreas Rostek (Hg.): Majdan! Ukraine, Europa. Übersetzt von translit e.V. und andere, edition.foto TAPETA, Berlin 2014. 160 Seiten, 9,90 Euro.