Die Khan Academy hat in den letzten Jahren Schlagzeilen gemacht. Ihr Gründer, der US-Amerikaner Salman Khan, Kind von Einwanderern aus Bangladesch und Indien, aufgewachsen im armen Louisiana, war Hedge-Fond-Analyst, Investmentmanager und Ingenieur. Nun ist er Leiter der innovativen Bildungsakademie im Internet und hat alle seine anderen lukrativen Tätigkeitsfelder an den Nagel gehängt. Die Idee zu seinem neuartigen Lehrkonzept entstand, als er einer Cousine Nachhilfeunterricht in Mathematik erteilte. Die Nachhilfestunden, zunächst am PC oder Telefon, wurden schnell sehr beliebt. Im Alleingang erstellte Kahn Lernvideos, platzierte sie auf You Tube – es hagelte Klicks. Mit über zwei Millionen Nutzern und 3.900 von Experten erstellten Videos ist die Khan Academy heute die weitweist meistgenutzte Online-Lernseite. Dass sie nach wie vor kostenfrei ist, entspringt Khans Ansicht, dass Bildung so vielen Menschen wie möglich, unabhängig von Herkunft und Einkommen, verfügbar sein sollte. Die Academy versteht Khan als ein Unternehmen mit einer Mission: The Khan Academy is an organization on a mission. We’re a not-for-profit with the goal of changing education for the better by providing a free world-class education for anyone anywhere.“ Er beklagt, dass zu viele Menschen „around the globe“ keinen Zugang zu Bildung hätten oder gezwungen wären, auf sehr autoritäre Weise lernen zu müssen, die ihren individuellen Bedürfnissen nicht Rechnung tragen könne. Mit sehr amerikanischem Pathos erklärt er: „We believe a few great people can make a big difference. We strive to hire the very best — people who are passionate, thoughtful and creative.“ Und natürlich wird aufs Große Ganze gezielt: „We’re a small team trying our best to improve the way the world learns.“
Die Fächer, die die Khan Academy abdeckt, sind Mathematik, Wissenschaft (diverse Bereiche) und Ökonomie, sogenannte Humanities, u.a. Fächer wie Medicine und Health Care, aber auch Art History. Die Internetseite wird nur mit Spenden finanziert, kürzlich erhielt die Akademie den mit zwei Millionen Dollar dotierten Preis des „10 hoch 100″-Projektes von Google. Mithilfe der Spenden wurden viele Inhalte in die meistgesprochenen Sprachen der Welt übersetzt. Auf viele Videos können iPad-Nutzer neuerdings per App zugreifen. Die User stammen von überall her, es sind Studenten, die sich mit dem Lernmaterial auf Abschlussprüfungen vorbereiten, Hausfrauen, die sich weiterbilden möchten oder Männer wie Jason, der in Kandahar in einer Militärbasis sitzt und sein späteres Studium vorbereiten möchte. Am Ende kann man Tests wie den California Standard Test oder Singapore Math absolvieren.
Der „Khan Academy“ ist ein Zitat von Platon aus „Der Staat“ vorangestellt: „Die zur Ausbildung gehörigen Lernfächer … muss man ihnen in ihrer Jugend vorlegen und dabei beim Unterricht das Lernen nicht zum Zwange machen … In einer Seele ist keine erzwungen beigebrachte Kenntnis von Dauer. Nicht also erzwungen erziehe ich junge Leute, sondern spielend, damit du auch imstande bist zu beobachten, wofür ein jeder geboren ist.“ Khan plädiert für ein antielitäres Bildungsmodell und für individuelles Lernen, angepasst an das Tempo und die Stärken des Schülers. Die Lektüre der „Khan Academy“ lohnt sich allein wegen der Exkurse darüber, wie der Mensch lernt, welche neuen Erkenntnisse aus der Hirnforschung es hierzu gibt und wie man in allen Altersstufen noch erfolgreich lernen kann. Die Khan Academy sieht ihr Material als geeignet für Schüler „von 8 bis 80“ an. Neben den Ausführungen über Lerntheorien spricht Salman Khan (der sich dem Leser informell als „Sal Khan“ vorstellt) auch sehr persönlich über den Aufbau der Schule. Manchmal muss man an die Anfänge von Steve Jobs denken, wenn er erzählt: „Den Großteil meiner Tage verbrachte ich im sechs-Dollar-T-Shirt und einer Jogginghose, sprach zu einem Computerbildschirm und hatte einen großen Traum“. Angenehmerweise wird man von den üblichen Selbstbeweihräucherungen, die Apologeten neuer Lernmodelle gern zur Untermauerung ihrer Legitimität äußern, verschont. Khan ereifert sich jedoch darüber, dass in den USA die Unterrichtspraxis an öffentlichen Schulen in den Jahren von 1893 bis 1979 in etwa gleich geblieben ist. Nach der einmaligen Reform von 1979 hätte sich auch nicht mehr viel geändert. Ein zentraler Punkt ist für Khan die Unterrichtslänge. Er zitiert Studien, die das erste Ermüden von Schülern nach 15-20 Minuten protokollieren, je länger der Unterricht, desto kürzer die Konzentrationsphasen. Khan hat sich von der 45-minütigen Lektion verabschiedet, seine Videos sind nur 20 Minuten lang. Nach einer Pause kann die nächste Lektion begonnen werden. In dem Kapitel „Videos ohne Schnickschnack“ erklärt er seine Vorstellung von Konzentration auf das Wesentliche. Er orientiert sich am Modell der erfolgreichen Harvard Business School, in der es keine Vorträge, kein passives Herumsitzen gibt. Die Studenten eignen sich das Lernmaterial zuhause an, in den Seminaren diskutieren sie miteinander. Auch in Khan-Seminaren gibt es keine Vorträge, nur Lehrer-Schüler-Gespräche und interaktive Übungstutorials – Studien ergaben, dass Studenten schneller lernen, wenn die Lehrer-Ausführungen von Fragen des Lernenden gelenkt werden.
Khan kritisiert ferner, dass herkömmliche Schulen ihren Unterricht nach Zeitvorgaben ausrichten statt nach einem bestimmten Verständnisgrad bei den Schülern. „Wenn das für ein Thema vorgegebene Intervall endet, folgt ein Test und dann wird weitergemacht“. Er regt sich darüber auf, dass ein Schüler, der eine Drei für einen Test erhalten hat, was ungefähr 75 % richtig gelöster Aufgaben entspricht, einfach zum nächsten Unterrichtsmodul „geschubst“ wird. Er fragt den Leser mit Blick auf das fehlende Viertel: „Würden Sie mit einem dreirädrigen Auto fahren?“ Er findet sogar, dass 95 % richtig gelöster Aufgaben nicht akzeptabel seien, weil die nicht gelösten 5 % früher oder später zu sich selbst dynamisierenden Verständnisproblemen führen würden. Daher plädiert er für ein strikt am Einzelnen orientiertes Lernmodell, bei dem jeder Schüler irgendwann alles verstanden hat: erst nach 10 richtig gelösten Aufgaben von 10 ist für ihn das nächste Lernmodul dran. Khan nennt das lückenhafte Lernen an konventionellen Schulen „Lernen nach dem Schweizer Käse-Prinzip“. Innovativ an dem Lernmaterial der Khan Academy ist eine Datenbank, mithilfe derer der Lehrer den Lernprozess seines Schülers nachvollziehen kann: mit welchen Aufgaben verbringt er viel Zeit, was gelingt ihm sofort. Wenn zwei Schüler mit der gleichen Algebra-Software beginnen, erhalten sie beim zweiten Übungsabschnitt individuelle Aufgaben und Erklärungen. Insgesamt ist die „Khan Academy: Die Revolution für die Schule von morgen“ eine der interessantesten Neuerscheinungen aus dem Bereich Bildung. Dass Khan über eine gute Portion Humor verfügt, belegt seine Auflistung des Teams der Khan Academy, in dem der Hund Toby sehr ausführlich – und gleichberechtigt mit zentralen Figuren der Schule – vorgestellt wird: als Director of Wellness.
Salman Khan: Die Khan Academy: Die Revolution für die Schule von morgen
Riemann Verlag, 300 Seiten, 19.90 Euro
© Tanja Dückers, Berlin, im Februar 2013