veröffentlicht auf ZEIT Online, September 2015
Die Zeiten sind vorbei, in denen Frauen sich ganz für die Kinder aufopferten. Ein Glück. Aber manchmal geht die Selbstverwirklichung der Eltern auf Kosten der Kinder.
Eigentlich ist es eine gute Nachricht: So hedonistisch wie heute waren Eltern noch nie. Mütter und Väter joggen auch mit dem Kinderwagen. Anschließend lesen sie in stilvollen Eltern-Kind-Cafés Zeitung und trinken Latte Macchiato oder einen Ingwer-Limetten-Smoothie. In Mutter-Kind-Gruppen (zunehmend gibt es auch Vater-Kind- oder einfach Eltern-Kind-Gruppen) herrscht ein anderer Ton als früher. Es dreht sich nicht mehr alles um das Wohlergehen des täglich gebadeten Säuglings. Dafür hören Eltern gerne das Mantra: „Einem Kind geht es nur gut, wenn es der Mutter gut geht.“ Nicht nur die Mütter, auch junge Väter gestalten die Freizeit des Nachwuchses nach ihren eigenen Interessen: ob Wildwasserkajak-Fahrten im Oderbruch, Klettern im Elbsandsteingebirge oder Strandurlaub in Thailand mit den lieben Kleinen.
Selbstverwirklichung nicht trotz, sondern mit Familie
Nach der Umfrage Das größte Glück für die Deutschen (TNS Infratest Trendbüro), steht heute für die Deutschen Selbstverwirklichung an erster Stelle. Und Selbstverwirklichung wird offensichtlich immer häufiger nicht trotz, sondern mit der Familie erfahren. Vielleicht ein wichtiger Grund, warum in Deutschland wieder mehr Babys geboren werden. Familie gilt nicht mehr nur als Verzicht. Jedenfalls stieg die Geburtenrate in den letzten Jahren parallel zur kontinuierlichen Aufwertung der Selbstverwirklichung als Glücksgarant. 715.000 Geburten zählte das Statistische Bundesamt im Jahr 2014. Zum ersten Mal seit zehn Jahren waren es wieder über 700.000.
Es ist zweifellos zu begrüßen, dass nicht mehr nur der Beruf als zentrales Moment der Selbstverwirklichung angesehen wird, sondern auch die mit der Familie verbrachte Zeit. Ebenso begrüßenswert ist es, dass Mütter heute mehr an sich denken.
Aber es gibt auch die Kehrseite: Die mit und über die eigenen Kinder so aktiv betriebene Selbstfindung tut den Kindern nicht immer gut. Die Gefahr besteht, dass sie für die Selbstverwirklichungswünsche der Eltern missbraucht werden. Wenn die Kinder nämlich selbst die ehrgeizigen Vorstellungen der Eltern erreichen sollen: über Musikinstrumente, Sportarten und andere Kunstfertigkeiten. Die Freizeit der Kinder ist zwar abwechslungsreicher als früher, aber die Eltern fungieren an allen Wegen und Pforten als Kontrollinstanz. Denn die Freizeit der Kinder ist oft auch ihre Freizeit. Sie wählen nicht nur die Aktivitäten sondern auch Mitspieler, Kumpels und Freunde aus. Und das hat Folgen, wie Tanja Stelzer schrieb: „Kinder lernen nicht mehr, mit all denen klarzukommen, die früher eben zufällig auch auf der Straße waren.“
Früher gestatteten Eltern ihren Kindern, sich an Sonntagnachmittagen und in den Ferien mal zu langweilen. Sie mussten sich selber etwas einfallen lassen. Aber weil die Eltern selbst nicht mehr bereit sind, sich auf Spielplätzen zu langweilen, dürfen es auch die Kinder nicht. Mütter sitzen nicht mehr vor dem ewig gleichen in Primärfarben gehaltenen Trio aus Rutsche, Schaukel und Wippe wie noch in den siebziger oder achtziger Jahren, und scharren mit den Schuhen den Beginn eines „Tunnels“ für den Nachwuchs in den Sand. Sie machen stattdessen Vater-Kind-Judo oder Mutter-Kind-Yoga, besuchen Puppenspieldarbietungen und Pantomimekurse, nicht selten ohne den Zusatz „das hätte ich als Kind ja auch so gern gemacht“. Sie lernen mit ihrem Nachwuchs gemeinsam Töpfern, Hinterglasmalerei, Samba, Tauchen, Bouldern und Spanisch. Schön für das Kind, so viel Aufmerksamkeit zu bekommen. Schlecht, wenn es keine Nische mehr für sich hat.
Väter sind es nicht gewohnt, sich für ihr Kind zurückzunehmen
Die stärkere Integration von Vätern in die Freizeitaktivitäten der Kinder hat dabei sicher einen großen Einfluss. Denn Männer sind nicht wie die Frauen seit Generationen daran gewöhnt, sich selbst für ihr Kind zurückzunehmen. Sie wollen die Zeit, die sie mit ihren Kindern verbringen, als eigene, erfüllte Freizeit erleben. Auch unter Müttern ist zum Glück die Idee aus der Mode gekommen, sich für den Nachwuchs komplett opfern zu müssen. Aber wehe, die Tochter will nicht mit der Mutter shoppen gehen oder gemeinsam inlineskaten.
Eltern stellen inzwischen oft hohe Erwartungen an das Kind, nicht nur in Bezug auf Leistungen, sondern auch auf die emotionale Zuwendung. Der Schweizer Kinderarzt und Bestsellerautor Remo Largo (Babyjahre, Kinderjahre, Schülerjahre) sagt: „Was mich dabei aber vor allem erschüttert, ist die Tatsache, dass viele Eltern das Gefühl haben, das Kind sei für sie da und nicht umgekehrt.“
Dass Eltern sich in der Familie selbst verwirklichen, ist trotzdem eine gute Entwicklung – wenn die Kinder genug Zeit für sich selbst haben und nicht nur als verlängerte Egos ihrer Eltern fungieren müssen. Auf die Balance kommt es an.
© Tanja Dückers, September 2015