veröffentlicht in Berliner Morgenpost, Dezember 2009
Wo ist es hin, das alte Berlin? Diese Frage stellen sich mitunter die Hauptstädter in beiden Teilen der Stadt, schreibt die Berliner Schriftstellerin Tanja Dückers in ihrem Beitrag. Das neue Berlin schwankt zwischen Mediterranisierung und Verarmung. Und zeigt gerade dadurch seine größte Stärke: die Fähigkeit, sich zu verändern, Widersprüche auszuhalten.
Für Schriftsteller gibt es kaum etwas Inspirierenderes als Spaziergänge durch die Stadt. Aus unendlich vielen Mosaiksteinen setzt sich für mich auf jedem Spaziergang ein neues Bild des gegenwärtigen Berlins zusammen. Letztens schaute ich bei Nanu Nana vorbei. In der Krimskramsladenkette findet man alles, was man noch nie brauchte und wofür man doch plötzlich Geld auszugeben bereit ist.
Etwa Kühlschrankmagneten. Die neueste Serie heißt „Nostalgie“ und zeigt Fotos von Berlin. Auf einem Magnet findet sich das alte Grenzschild „Achtung, Sie verlassen jetzt Berlin-West“. Das hat mir zu denken gegeben. Plötzlich ist nicht mehr nur von Ostalgie die Rede, vom verschwundenen Osten, auf einmal wird der nostalgische Blick auf den alten Westen gerichtet. Eine Stadt, von der mehr und mehr Menschen merken, dass sie genauso verschwunden ist wie die einstige Hauptstadt der DDR.
Die ungewöhnliche geopolitische Situation – Randlage, Insellage, Frontstadt, Unterschlupf für Wehrdienstverweigerer – und die mit ihr einhergehende melancholische, manchmal beklemmende, manchmal aber auch besonders freizügige Stimmung haben sich grundlegend verändert. Bei meinen vielen Spaziergängen durch die Stadt fällt mir auf, wie West-Berlin im Vergleich zumindest zu den Innenstadtbezirken des Ostteils plötzlich altmodischer, fast ein wenig „stehen geblieben“ wirkt. Manchmal, wie bei der Gegend um den Bahnhof Zoo oder angesichts von Fressbuden und Discounterketten auf dem Kudamm, finde ich das traurig. Manchmal, wenn ich alte Trödelläden, gemütliche Cafés (ohne Esoterik-Blubbermusik!) und schöne Konditoreien in Schöneberg oder Charlottenburg besuche, charmant.
Dann werde auch ich, eine gebürtige West-Berlinerin, nostalgisch. Der „goldene“ Westen ist nun der „alte“ Westen. In Gesprächen mit Kolleginnen aus dem Ostteil der Stadt wie Katja Lange-Müller oder Annett Gröschner merke ich, dass auch sie den Blick auf den alten Westen gerichtet haben und sich für ihn interessieren. In ihrer üblichen schnoddrigen, aber immer sehr treffenden Art bemerkte Katja Lange-Müller, dass Teile von West-Berlin „verpauperten“. Damit ist die Verarmung, im soziologischen Fachjargon Pauperisierung genannt, gemeint. Bezeichnenderweise ist es ein Bezirk im alten West-Berlin, der – bundesweit – als Inbegriff des Problemkiezes gilt: Neukölln, der Bezirk der Wendeverlierer West.
In viele Bezirke im Ostteil ist in den vergangenen zwanzig Jahren sichtbar mehr Geld geflossen, manche Straßenzüge in Kreuzberg, Neukölln oder auch in Wilmersdorf und Charlottenburg sehen aus, als sei hier seit den frühen 80er-Jahren nichts mehr geschehen. In Bezirken wie Prenzlauer Berg oder Mitte sind viel mehr Häuser renoviert worden, ist viel mehr investiert worden, was natürlich auch seine Kehrseiten hat: stark angehobene Mieten, nicht immer geschmackvolle Restaurierungen, oft ersonnen von Menschen, die Berlins Straßenzüge entweder durchgehend im hanseatischen Weiß erstrahlen lassen wollen oder in knalligen Farben, als sei die einstige Hauptstadt Preußens ein italienischer Vorort.
Neue Leichtigkeit und Lieblichkeit
Insgesamt scheint es mir seit der Wende zwei gegenläufige Entwicklungen gegeben zu haben: die Mediterranisierung Berlins, womit mehr gemeint ist als die Zunahme von bunten Straßencafés, Spreeufer-Strandbars und Latte-macchiato-Trinkern. Mit der sogenannten Mediterranisierung ist eine neue Leichtigkeit und Lieblichkeit in das traditionell eher raue soziale Klima der Stadt eingekehrt. Zur Mediterranisierung gehört, im soziologischen Sinne, Berlins neue Schickeria, gehören die Mäzene und Models, die sich hier angesiedelt, zumindest eine Zweitwohnung gekauft haben, gehören die Mode- und Kunstmessen, die sich in den vergangenen Jahren hier etabliert haben, und die unendlich vielen Cafés im Wohnzimmerlook, die Boutiquen mit dem genderübergreifenden Niedlichlook, ganz zu schweigen von Yogastudios und Wellnesseinrichtungen. Es ist ein neuer Sinn fürs profane Wohlbefinden in Berlin entstanden, mit einem Touch ins Infantile, Verspielte.
Während die Westberliner Boheme früher eher düster gestimmt war, ihre eigene Kaputtheit zelebrierte und sich von Berlins Brachen und Brandmauern und seinem besonderen geopolitischen Status angezogen fühlte, trinkt sie jetzt Yogi-Tee und hat keine natürlichen Feinde mehr. Während früher junge Menschen in Scharen auf die Insel West-Berlin strömten, weil sie die Stadt als Unterschlupf – vorm Wehrdienst und/oder vor einem erzkonservativen Elternhaus – ansahen, zieht man heute nach Berlin, weil die Stadt so offen und kosmopolitisch geworden ist, weil sie (wieder) eine der wichtigsten europäischen Metropolen, wirtschaftlich und kulturell, geworden ist, und an einigen Ecken sogar mondänen Glanz ausstrahlt.
Der Mediterranisierung steht die allgegenwärtige „Verpauperung“ gegenüber. In Berlin sind derweil New-York-artige soziale Brüche zu verzeichnen: Während man in Prenzlauer Berg eben noch an schicken Cafés und Nippesläden und entsprechender Kundschaft mit Dreitagebart und Designerbrille entlanggeschlendert ist, muss man nur den Gleimtunnel (früher verlief hier die Mauer) durchqueren, und steht, keine fünfzig Meter weiter westlich, im tiefsten Wedding. In Turnhose, mit Bierpulle und Obi-Tüten in der Hand begegnet einem der Weddinger. In den Läden wird statt „Wohlfühlmassage“ Sonnenbräune feilgeboten, statt Mutter-Kind-Cafés gibt es Sexshops, und man trinkt nicht Bionade, sondern Bier. Ein Klischee, aber ich hab’s auf Hunderten von Spaziergängen bestätigt gefunden.
Die Verarmung der Stadt ist in vielen Bezirken spürbar, Mitarbeiter von Obdachlosenhilfswerken können dies bestätigen. Berlin ist zudem das Bundesland mit dem höchsten Anteil an Hartz-IV-Empfängern und die einzige Hauptstadt Europas, die ärmer ist als der übrige Teil des Landes. Paris, London, Madrid – fast alle europäischen Hauptstädte gehören zur wohlhabendsten Region ihres Landes, wobei im Fall von Berlin die besonderen historischen Gründe sowie die föderalistische Struktur Deutschlands dafür mitverantwortlich sind.
Lange Jahre galt Berlin als Schlusslicht, als abgehängter Standort der Republik. Nach der Wende verschärften die Deindustrialisierung im Osten und die gestrichenen Berlin-Zulagen im Westen zunächst die Situation. Und doch trägt jetzt makabrerweise die Armut der Stadt zu ihrem Zukunftspotenzial bei. So sind die niedrigen Mieten in Berlin ein Standortvorteil für die Stadt im Wettbewerb mit anderen Metropolen. Junge Kreative zieht es in die Stadt – auch weil sie es sich leisten können, hier zu leben.
Wachsende Kreativwirtschaft
Einer Studie des Forschungsinstituts Prognos zufolge ist die Hauptstadt in sieben entscheidenden Zukunftsfeldern nach Hamburg die Topregion Deutschlands! Zum Beispiel wächst in keiner anderen Region Deutschlands die Kreativwirtschaft so stark wie in Berlin. Demnach hat die Zahl der Unternehmen, die in den Bereichen Film, Musik, Literatur, Kunst, Mode, Design oder anderen kreativen Sparten tätig sind, innerhalb von sechs Jahren um ein Drittel auf 23.000 zugenommen. Mittlerweile setzt diese Branche in Berlin jährlich mehr als 17,5 Milliarden Euro um – was mehr als ein Fünftel der gesamten Wirtschaftskraft der Stadt entspricht. Rund 160.500 Menschen arbeiten in der Branche. Das sind etwa zehn Prozent aller Berliner Erwerbstätigen. Die wirtschaftlich totgesagte Industriestadt erweist sich nun als Trendsetter hinsichtlich eines erfolgreichen Wandels von einer fordistisch geprägten Industriestruktur hin zu einer modernen Dienstleistungsgesellschaft.
Wenn man nun gefragt wird, was vom gegenwärtigen Berlin zu halten sei, müsste die Rückfrage erst einmal lauten: welches Berlin? Berlin ist, wie schon allein anhand von Mediterranisierung und Pauperisierung verdeutlicht, vieles, und eine der Haupteigenschaften dieser Stadt ist ihre enorme Wandlungsfähigkeit. Bei der Erforschung des gegenwärtigen Berlins merkt man bald, dass auf Berlin – wie auf eine gelungene Romanfigur – immer eine Eigenschaft und ihr genaues Gegenteil zutreffen.
Berlin ist mondän – und provinziell. Berlin ist lieblich (auf der Pfaueninsel oder an der Krummen Lanke) – und rau (auf der Hermannstraße, um nur eines von vielen möglichen Beispielen zu nennen). Berlin ist eine politisierte Stadt, eine Stadt der tausend Debatten und unzähligen Demonstrationen, und Berlin ist eine Hochburg für den „Rückzug ins Private“, für Laubenpieper, für Hunde- und Wellensittichbesitzer. Berlin weist mancherorts mit die höchste Geburtenrate Deutschlands auf, anderswo wohnen die meisten Dauersingles der Republik, gibt es die schrillsten Blind-Date-Partys.
Berlins Stärke ist seine Wandlungsfähigkeit. Viele Menschen lieben Berlin, weil sie in der Stadt sehr frei leben können. Es gibt in Berlin kaum einen vorherrschenden sozialen Kodex. Man könnte argumentieren, dass diese Freiheit ein Signum von Großstädten schlechthin sei, aber das stimmt nicht. Wer länger in anderen Großstädten gelebt hat, wird bestätigen können, dass es für Neuankömmlinge in vielen Städten, gerade in solchen mit einem „langen historischen Atem“ (Paris, Rom, Madrid), sehr schwer ist, wirklich Fuß zu fassen. Das ist in Berlin, einer Stadt mit sehr hoher sozialer Fluktuation, in der es relativ wenig Urberliner gibt, nicht der Fall. Hier kann jeder neu anfangen, die Identität der Stadt liegt eben in ihrer Veränderungsfreudigkeit und der Präsenz von Zugezogenen.
Wäre Berlin eine literarische Figur, wäre sie für mich eine verhaltensgestörte, aber geniale junge Frau – mit multipler Persönlichkeit.
© Tanja Dückers, Dezember 2009