veröffentlicht im Deutschlandfunk als Langessay im April 2014
Im Zuge der Verankerung eines „Sexkaufverbots“ in Frankreich im vergangenen Jahr hat Alice Schwarzer eine Debatte über ein Verbot der Prostitution losgetreten. Beispielhaft soll Schweden sein, ein Land, in dem Freier seit Ende der 90er-Jahre bestraft werden, Prostituierte jedoch nicht. Doch nach über zehn Jahren sieht die Bilanz für das Königsreich nicht gut aus: Die Prostitution hat sich von der Straße ins Internet verlagert. Auch die organisierte Kriminalität hat nicht ab-, sondern zugenommen. Dennoch hat man sich im vergangenen Herbst in Frankreich gesetzlich auf das „Sexkaufverbot“ geeinigt.
Welchen Sinn hat es, den „Sexkauf“ zu verbieten und wie denken eigentlich die Betroffenen selbst darüber? „Jedes Verbot ist ein heimliches Gebot“ (Michel Foucault) – die Schriftstellerin und Publizistin Tanja Dückers, die selber einmal Augenzeugin von sexueller Gewalt wurde, stellt die Frage nach dem Sinn und Erfolg eines Verbots.
Ein Essay von Tanja Dückers
„Jedes Verbot ist ein heimliches Gebot.“
(Michel Foucault)
Europa ist ein Mosaik, was den gesetzlichen Umgang mit dem „ältesten Gewerbe der Welt“ angeht. Die rechtliche Stellung der Prostitution variiert von strafrechtlicher Verfolgung bis hin zu voller Legalität. Dazwischen gibt es alle möglichen Abstufungen: Manchmal ist die Prostitution an sich legal, aber Bordelle sind illegal. In manchen Ländern – so in Schweden, Island, Norwegen und seit letztem Jahr auch in Frankreich – werden nur die Freier strafrechtlich verfolgt, nicht aber die Prostituierten. In anderen Ländern werden nur die Prostituierten verfolgt, nicht aber die Freier.
Zwei gegenläufige Tendenzen zeichnen sich derzeit in Europa ab: Mit dem sogenannten „Sexkaufverbot“ folgen einige Staaten dem Abolitionsprinzip mit dem langfristigen Ziel der Abschaffung der Prostitution, dazu zählen Schweden und Frankreich. Dem Entkriminalisierungsprinzip folgen andere Länder: Deutschland, Österreich, die Schweiz und die Niederlande.
Wie sieht die Situation in Deutschland genau aus?
Unter Rot-Grün trat am 1. Januar 2002 das sogenannte Prostitutionsgesetz in Kraft, das Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten – kurz: ProstG. Es hatte zum Ziel, die rechtliche und soziale Situation von Sexarbeitern zu verbessern und die Kriminalitätsrate in Bezug auf Menschenhandel und Zwangsprostitution zu verringern. Das Strafgesetzbuch wurde geändert: Die Schaffung eines „der Prostitution dienlichen Umfeldes“ wird nicht mehr als Zuhälterei bestraft. Das bedeutet, dass neben der selbstständigen Tätigkeit als Sexarbeiter nun auch das Betreiben von Bordellen erlaubt ist. Prostituierte sollen Arbeitsverträge bekommen und haben das Recht, sich krankenversichern zu lassen und in die gesetzliche Sozialversicherung aufgenommen zu werden. Auch Löhne sollen einklagbar sein.
Das Gesetz wurde seitdem scharf kritisiert: Gegner meinen, dass das Gesetz den Betroffenen schadet, weil die Vorteile nicht in Anspruch genommen und stattdessen Menschenhandel und Ausbeutung gefördert werden. Befürworterinnen, darunter zahlreiche Prostituierte, halten das Gesetz grundsätzlich für richtig, aber unzureichend umgesetzt.
Nach Angaben eines Berichts der Internationalen Arbeitsorganisation ILO aus dem Jahr 2012 werden in Europa jedes Jahr rund 270.000 Frauen Opfer von Menschenhandel. Genaue Zahlen zu ermitteln, ist jedoch schwierig, da jedes Land unterschiedliche Kriterien anlegt, was als „Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung“ eingestuft wird. In jedem Fall verbirgt sich hinter solchen Zahlen unglaublich viel individuelles Leid. Der organisierte Menschenhandel entbrannte in Europa nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und ganz besonders nach dem Beginn des jugoslawischen Bürgerkriegs. Dass es mitten in Europa ein solch gewaltiges Ausmaß an moderner Sklavenhaltung gibt, ist mehr als beschämend. Zudem steht das Thema viel zu selten im Blickpunkt der medialen Öffentlichkeit. Da die Opfer keine Stimme und keine Lobby haben, können sie wenig auf sich aufmerksam machen. Wirklich Empathie für die Opfer entwickelt man meist erst, wenn es einmal eine Überschneidung der eigenen Welt mit dieser vermeintlich so fernen, anderen Welt gegeben hat. In meinem Leben gab es einmal solch eine Überschneidung: Ich habe als Studentin in Berlin-Neukölln gelebt. In meiner Straße befanden sich mehrere Bordelle, das wusste jeder. Eines Morgens ging ich um halb zehn aus dem Haus, wollte die U-Bahn nach Dahlem zur Freien Universität nehmen, als ich Augenzeugin einer üblen Szene wurde: Ich sah, wie zwei in schwarze Lederjacken gekleidete kräftige Männer den Kofferraum eines Autos öffneten. Sie zerrten eine junge Frau, eher noch ein Mädchen, sehr dünn und mit langen schwarzen Haaren, aus dem Kofferraum. Das Mädchen schien ohnmächtig zu sein oder wieder zu werden, es sackte sofort in sich zusammen. Es trug hohe Schuhe, schwarze Nylonstrumpfhosen. Die Männer packten das Mädchen unter den Schultern und schleiften es brutal in ein Bordell, das bei mir an der Ecke lag. Das alles passierte um halb zehn morgens, hundert Meter von einer belebten Einkaufsstraße entfernt.
Die Liberalisierung als Freibrief für Menschenhändler?
Christian Pfeiffer, der bekannte Kriminologe und frühere niedersächsische Justizminister für die SPD, meint, das Liberalisierungsgesetz von 2002 hätte die Situation nur verschlimmert. Es hätte nur dafür gesorgt, dass Zuhälter Geld verdienen wie nie zuvor. Deutschland sei der Umschlagplatz für Frauen geworden. Er empfiehlt der Großen Koalition den Blick nach Schweden, wo Prostitution konsequent unter Strafe steht. Auch die langjährige SPD-Gewerkschafterin Engelen-Kefer fordert die Regierung dringend auf, das Prostitutionsgesetz zu ändern:
„Das war kein Schutz für die Frauen, sondern ein Freibrief für Menschenhändler“. „Hoffnungslos überfordert“ sei die Polizei mit der Kontrolle von Prostitutionsbetrieben. Für sie gibt es auf Dauer keine Alternative zum Vorgehen der schwedischen Regierung. Die Union drängt ebenfalls auf eine Verschärfung des Prostitutionsgesetzes. Die frauenpolitische Sprecherin der CDU-Landtagsfraktion in NRW, Regina von Dinther, meint, dieses habe dem Menschenhandel „Tür und Tor geöffnet“. Die rot-grüne Reform von 2002 habe Deutschland zur Drehscheibe des Frauenhandels gemacht.
Als im vergangenen Jahr nach Schweden, Norwegen und Island auch Frankreich das sogenannte „Sexkaufverbot“ durchsetzte, meldete sich Alice Schwarzer, seit Langem Kämpferin gegen die Prostitution an sich, öffentlich zu Wort: In ihrem im vergangenen Jahr erschienenen Buch „Prostitution – ein deutscher Skandal“ macht sie schon im Titel deutlich, dass sie die deutsche Gesetzgebung auf diesem Sektor für mangelhaft hält.
Caren Marks, SPD, seit Ende 2013 Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, kritisiert, dass Schwarzer nicht zwischen organisiertem Menschenhandel, der Zwangsprostitution und der legalen Prostitution differenziert und warnt davor „freiwillig ausgeübte Prostitution wieder in die Illegalität zu drängen.“ Das würde die Gefahr von Ausbeutung und Gewalt „nur noch weiter vergrößern“, statt die Frauen mit mehr Rechten zu stärken, meint die NRW-Gesundheitsministerin Barbara Steffens von den Grünen. „Es geht dabei ausschließlich um die aus eigener Entscheidung ausgeübte Tätigkeit, Zwangsverhältnisse sind und bleiben strafbar“, stellt die Politikerin klar.
Diese Position vertritt ebenfalls Stefanie Lohaus, Gründerin und Redakteurin des „Missy Magazine“, eines feministischen Magazins, das sich an eine jüngere Leserschaft als die der Zeitschrift „EMMA“ wendet. Ihrer Meinung nach hat die Politik im Jahr 2002 „durchaus richtig gehandelt“. Denn, wie sie auf dem „FAZ“-Blog „Ich. Heute. 10 vor 8“ am 13. November 2013 schreibt:
„Was die Politiker aber auch nicht wissen konnten war, wie schwierig es sein würde, das Gesetz zur Anwendung zu bringen und welche Fallstricke sich im Hinblick auf das Thema Menschenhandel dahinter verbergen würden. Ein Gesetz braucht immer Strategien zu seiner nachhaltigen Anwendung, von selbst ändert sich nichts.“
Dass der hehre Wunsch, den Menschenhandel in Deutschland per Gesetz einzudämmen, gescheitert ist, bestätigt auch eine neue von der Europäischen Kommission finanzierte Studie. Forscher der Universitäten Göttingen und Heidelberg haben darin die Auswirkung legaler Prostitution auf den Menschenhandel untersucht und festgestellt, dass es in Ländern mit liberalen Prostitutionsgesetzen wie Deutschland vergleichsweise mehr Menschenhandel gibt. Nach den Autoren Dr. Seo-Young Cho von der Universität Göttingen und Professor Dr. Axel Dreher, Universität Heidelberg, führt die Legalisierung der Prostitution zu einer wachsenden Nachfrage und somit zu einer Ausweitung des Marktes:
„In Deutschland, wo Prostitution legal ist, ist der Markt 60-mal größer als in Schweden […]. Gleichzeitig hat Deutschland rund 62-mal so viele Opfer von Menschenhandel wie Schweden, obwohl die Bevölkerung weniger als zehn Mal so groß ist.“
[Aus der Studie „Does Legalized Prostitution Increase Human Trafficking?“]
„Sexkaufverbot“ – der schwedische Weg
Doch ist der viel gepriesene „schwedische Weg“ langfristig wirklich erfolgreicher? Bekämpft er den Menschenhandel effektiver, hilft er den Prostituierten in einer auch aus ihrer Sicht sinnvollen Weise? Was macht Schweden anders? Bevor wir hören, was die Betroffenen selbst zur deutschen Gesetzgebung sagen, werfen wir einen Blick nach Schweden:
In Schweden trat am 1. Januar 1999 das „Gesetz zum Verbot des käuflichen Erwerbs sexueller Dienstleistungen“ in Kraft. Das Sexkaufverbot besagt, dass nicht die Anbietung der sexuellen Dienstleistung an sich strafbar ist, wohl aber die Inanspruchnahme. Auch der Versuch der Inanspruchnahme ist strafbar. Als Gegenleistung zählen nicht nur Geld, sondern auch Drogen, Alkohol, Zigaretten, Essen oder Geschenke. Die Höchststrafe für dieses Vergehen ist ein Jahr Gefängnis. Mit der neuen Gesetzgebung in Schweden ist eine Kehrtwende vollzogen worden: Bisher waren nur Prostituierte von Strafen bedroht, nun werden die Freier bestraft.
Das Verhältnis zwischen Staat und Individuum sei in Schweden „kommunitär“ organisiert, schreibt die promovierte Pädagogin Susanne Dodillet von der Universität Göteborg. Der Staat steht „für kollektive moralische Prinzipien und entscheidet, welche Lebensentwürfe erstrebenswert sind.“
Dem stehe – mit Blick auf Deutschland und andere – das „Autonomieprinzip“ gegenüber: Der Staat bleibt neutral gegenüber den Lebensentwürfen der Bürger und greift nur ein, wenn einer dem anderen in die Quere kommt. Auf dieses Freiheitsverständnis beruft sich der Protest prominenter Franzosen, die in einem Manifest der 343 Dreckskerle das Recht auf käuflichen Sex in Frankreich fordern.
Auch Finnland und Dänemark diskutierten ein Sexkaufverbot, lehnten es aber ab. In Finnland wurden die Gesetze dahingehend verschärft, dass sich Freier strafbar machen, wenn sie mit einer Zwangsprostituierten verkehren – ein Modell, das auch die Grünen in Deutschland vorgeschlagen haben. In Dänemark wurde das Sexkaufverbot abgelehnt, weil man nicht glaubte, dass die Zahl der Prostituierten durch die Kriminalisierung der Kunden abnehmen würde.
Elf Jahre nach Inkrafttreten des Sexkaufverbotes gab es eine Evaluation in Schweden: Tatsächlich soll die Straßenprostitution zurückgegangen sein. Doch selbst das BRÅ – der Nationale Rat für Verbrechensprävention in Schweden – hegt Zweifel an diesem Erfolg. Denn nur zu oft hat sich die Anbietung sexueller Dienstleistungen von der Straße ins Internet verlagert – ein genereller Trend, der auch in anderen Ländern, ohne Sexkaufverbot, deutlich zu beobachten ist. Auch ist es in Schweden schwieriger geworden, die Straßenprostituierten zu zählen, da sie sich auf größere Gebiete verteilen und nicht mehr nur auf den Hauptstraßen von Stockholm, Malmö oder Göteborg stehen. Fraglich ist auch, wie stabil der Rückgang ist. In seinem Prostitutionsbericht schreibt das Socialstyrelsen, die Nationale Behörde für Gesundheit und Soziales:
„Der Gesamteindruck […] ist, dass der Sexhandel während eines kurzen Zeitraums direkt nach Inkrafttreten des Gesetzes praktisch von der Straße verschwunden ist. Später kam er zurück. Wenn auch in geringerem Ausmaß […]. Inzwischen sind ungefähr zwei Drittel der Straßenprostituierten wieder da, wenn man es mit der Situation vor dem Inkrafttreten des Sexkaufverbots vergleicht.“
Wie aus den Daten der EU-Kommissionsstudie ersichtlich, soll Schweden zumindest erfolgreicher darin sein, Menschenhandel zu unterbinden. Doch Susanne Dodillet von der Universität Göteborg gibt zu Bedenken, dass es in Schweden auch vor dem Sexkaufverbot vergleichsweise wenig Prostitution gab. Deutschland ist in Europa schon seit Anfang der 90er-Jahre ein Drehkreuz für Menschenhandel, was vor allem geopolitische Gründe hat und nicht auf das Sexkaufverbot zurückzuführen ist. Schweden hat auch vor Inkrafttreten dieses Verbots im Vergleich zu Deutschland nur eine untergeordnete Rolle im internationalen Menschenhandel gespielt. Nach Angaben vom BRÅ kann das Sexkaufverbot zwar ein Hindernis für Menschenhandel sein, aber auch ein Werkzeug zur Verbesserung der Marktbedingungen, weil durch das Gesetz die Preise für Sex gestiegen sind. Dies wiederum macht Schweden attraktiv für gerissene Kriminelle. In einer Pressemitteilung aus dem Jahr 2010 teilt die schwedische Polizei mit:
„Die schwere organisierte Kriminalität, darunter Prostitution und Menschenhandel, hat im letzten Jahrzehnt an Stärke und Komplexität zugenommen. In Schweden stellt sie ein ernstes soziales Problem dar und die organisierte Kriminalität erwirtschaftet durch die Ausbeutung und den Handel mit Menschen unter sklavenartigen Bedingungen große Geldsummen.“
Im Nachbarland Norwegen wurden seit Einführung des Sexkaufverbots im Jahr 2009 nicht weniger Fälle von Menschenhandel aufgedeckt als zuvor.
Kaum abschreckende Wirkung auf Freier
Hält das Gesetz wenigstens Freier ab? Auch das muss angezweifelt werden. In den vom Socialstyrelsen durchgeführten Interviews gaben die meisten Männer an, die Entscheidung, Sex zu kaufen oder nicht, hänge von anderen Faktoren als vom Verbot ab. Das Schwedische Radio führte eine Umfrage durch, um das Sexkaufverbot zu evaluieren. Neunzehn Lokalradiostationen schalteten gefälschte Anzeigen im Internet, in denen scheinbar Prostituierte, die über E-Mail oder Handy erreicht werden konnten, ihre Dienste anboten. Die Sender wurden von Antworten überschwemmt. Die Radiosender riefen einige der Männer an und erfuhren, dass das Verbot sie nicht abschreckte. Einer verglich den Kauf von Sex mit Verkehrssünden: Es sei auch verboten, zu schnell Auto zu fahren – man kann dabei erwischt werden oder Glück haben -, wert sei es das allemal.
„Das schwedische Sexkaufverbot. Beanspruchte Erfolge und dokumentierte Effekte.“
Die Wissenschaftlerinnen Susanne Dodillet und Petra Östergren beschäftigen sich in ihrer Studie mit der Diskrepanz zwischen dem proklamierten Erfolg des Sexkaufverbots in Schweden und dessen real dokumentierten Auswirkungen. Die Analyse verfügbarer Dokumente mache deutlich, dass weder die prostitutionshemmenden Effekte des Gesetzes noch seine abschreckende Wirkung belegt seien. Die Autorinnen schreiben überdies:
„Auch die These, die öffentliche Meinung habe sich signifikant in die gewünschte, radikalfeministische Richtung gewandelt und die Zustimmung zum Sexkaufverbot habe zugenommen, kann nicht bekräftigt werden.“
Die Autorinnen kritisieren überdies, dass das Gesetz ohne die Betroffenen gestaltet wurde, was sie als „respektlos und diskriminierend“ empfinden.
Was denken die Sexarbeiter in Deutschland denn selber?
Zunächst einmal ärgern sie sich darüber, als genuin Betroffene vom gesellschaftlichen Diskurs über die Prostitution ausgeschlossen zu sein. Es ist in der Tat absurd, wenn, wie ich das erlebt habe, Alice Schwarzer in der Berliner Urania ein Plädoyer für das Prostitutionsverbot hält, aber Prostituierte mit Plakaten gegen das Verbot des Saals verwiesen werden mit den Worten, sie sollen nicht weiter stören. Auf dem Podium saß keine einzige Prostituierte.
Im Dezember 2013 meldet sich nun der Verein Hydra mit dem Beitrag zu Wort:
„Für eine sachliche Analyse anstelle moralischer Kampagnen. Antwort von Hydra e.V. auf die diffamierende Darstellung unserer Arbeit in dem Buch ‚Prostitution – ein deutscher Skandal‘ (Köln 2013) sowie in ‚Emma‘ 1/2014“
Darin konstatiert Hydra:
„Dass die Lebenssituation von Prostituierten nicht durch die ‚Ächtung der Prostitution‘ oder ihr Verbot, sei es auch nach dem sogenannten ‚Schwedischen Modell‘ der Freierbestrafung, wie sie die ‚Emma‘-Herausgeberin fordert, verbessert wird, sondern vielmehr durch eine konsequente Legalisierung und Entstigmatisierung der Prostitution, sollte sich eigentlich für jeden denkenden Menschen von selbst verstehen. Nur in der Legalität können sich Sexarbeiter_innen wirksam gegen Übergriffe, Ausbeutung und Honorarbetrug wehren. Und nur die Legalität ermöglicht es auch, konkret über die Verbesserung von Arbeitsbedingungen nachzudenken.“
An dieser Stelle sei angemerkt, dass Vereine wie Hydra e.V. oder Madonna e.V.den Begriff der Sexarbeit dem Begriff der Prostitution vorziehen. Denn die Prostitution wird als legitime Form der Arbeit und Erwerbstätigkeit angesehen, die auch als solche geregelt werden soll. Ferner meint Hydra, dass viele Probleme von Sexarbeiterinnen erst durch die gesellschaftliche Ächtung entstünden. Durch die Stigmatisierung würden Sexarbeiter sozial marginalisiert und in ein Doppelleben gezwungen.
Darüber hinaus wendet sich Hydra in seiner Antwort auf Schwarzer gegen den vorherrschenden „Opferdiskurs“ und gegen die Behauptung, über 90 Prozent der Prostituierten arbeiteten „nicht freiwillig“ und die, die es täten, seien als Kinder missbraucht worden. Auch von anderen Seiten ist Alice Schwarzer schon vorgeworfen worden, ihre Zahlen nicht seriös zu belegen.
Enttäuscht stellen die Vertreterinnen vom Hydra e.V. fest:
„Diese Kampagne dient nicht den Prostituierten, wie sie es vorgibt, sondern sie entmündigt sie und spricht ihnen die Fähigkeit ab, für sich und ihr Leben selbst Entscheidungen zu treffen.“
Stefanie Lohaus vom „Missy Magazine“ ist der Ansicht, dass sich in der öffentlichen Wahrnehmung zwei Klischeebilder von Prostituierten verfestigt haben: Das Opfer und die Femme Fatale. Die arme ausgebeutete Osteuropäerin, Opfer von Menschenhandel und das Sexmonster, die Domina mit roten Haaren, Lackstiefeln und Peitsche, die ihrer Arbeit zwar freiwillig nachgeht, aber doch zumindest einen tiefen psychischen Knacks haben muss. Daher hat das „Missy Magazine“ im Februar 2014 ein umfangreiches Dossier „Sex-Arbeit. Jetzt reden die ExpertInnen“ veröffentlicht und darin anhand von Porträts verschiedener Sexarbeiter, auch männlicher, einen differenzierenden Blick auf die Prostitution erlaubt.
Da ist Stephanie Klee, „51, Sexualassistentin“. Sie gibt über ihren Beruf nüchtern zu Protokoll:
„Angefangen habe ich in einem Bordell in meinem deutschen Heimatdorf. Heute arbeite ich überwiegend als Sexualassistentin in Seniorenheimen […]. Ich engagiere mich auch für die Rechte von Prostituierten, mache gewerkschaftliche Arbeit, Fortbildungsprogramme in Bordellen oder kläre in der Gesellschaft über Prostitution auf. Ich bin selbstständig und rechne meine Einnahmen mit dem Finanzamt ab.“
Das klingt beinahe nach einem Bewerbungsschreiben.
Kristina Marlen ist Physiotherapeutin und Sexarbeiterin. Sie bietet „Tantra und Bondage-Sessions für Männer und Frauen“ an.
„Ich biete nur an, womit ich mich gut fühle“ und „Ich liebe meine Arbeit“.
Im schwedisch verstandenen Feminismus – Verbot des Sexkaufes – scheint sie keinen Gewinn zu sehen:
„Ich biete meine Sessions gezielt auch für Frauen an. Ich denke, dass es ein wichtiger Schritt im Sinne einer Emanzipation ist, wenn auch Frauen sexuelle Dienstleistungen in Anspruch nehmen“.
Perikilis ist Yogalehrer und Tantramasseur. Er ist als Tänzer und Schauspieler ausgebildet und probt – neben der Sexarbeit – derzeit für eine Oper von Wagner, in der er eine Bondageszene vorführt.
Rachel arbeitet in einer Peepshow, macht Kunst und studiert. Sie empfindet die Arbeit mal als eher lästig, mal als akzeptabel. Es wird aber auch eine Mutter vorgestellt, die schon in ihrem Heimatland Bulgarien nach ihrer Scheidung als Prostituierte gearbeitet hat und nun in Deutschland als Stricherin auf der Straße steht.
„Ich mache den Job nun seit zwölf Jahren – aus Geldnot, nicht weil ich Spaß daran habe.“
Wenig von dem von Schwarzer propagierten „schwedischen Modell“ hält auch die Deutsche Aidshilfe. Denn Sozialarbeiterinnen gehen in Bordelle, um konkret die Arbeitsbedingungen der Frauen zu verbessern und Gesundheitsaufklärung zu leisten. Sie warnen vehement vor dem „schwedischen Modell“ der Illegalisierung, denn es würde ihre Aufklärungsarbeit unmöglich machen: Wer illegal lebt, hat gar keine Rechte mehr.
Der mediale Streit über die Prostitutionsgesetzgebung entfachte sich auch zwischen Feministinnen selbst. Das Magazin „Missy“ vertritt ähnliche Positionen wie der Hydra e.V. und verlangt eine Miteinbeziehung der Betroffenen in die gesellschaftliche Debatte. Leider haben die „EMMA“-Mitarbeiterinnen auf die jüngeren Feministinnen sehr feindselig reagiert und Stefanie Lohaus „nicht zu überbietenden Zynismus“, „Verhöhnung der Opfer“ und „Arroganz“ vorgeworfen. Auch wurde die Nase gerümpft über den Anspruch des „Missy Magazine“, „Popkultur, Politik und Style mit einer feministischen Haltung zu verbinden“, so als würde das Wort „Pop“ jemand von vornherein intellektuell disqualifizieren.
In ähnlicher Weise wurde schon einmal auf die Gruppe von feministischen Autorinnen reagiert, die vor sechs Jahren mit „Wir Alphamädchen“ ein feministisches Manifest der jüngeren Generation veröffentlichte, in dem sie zwar feministische, aber keine sogenannten „schwarzerischen“ Positionen vertraten. Die Jüngeren meinen wiederum, dass es Schwarzer argumentativ nicht gelänge, sobald man den Menschenhandel aus der Debatte entfernt, den konkreten Schaden für die Frauen nachzuweisen – vorausgesetzt, es handele sich dabei um Erwachsene, die den Job freiwillig machen. Ökonomischer Druck sei auch sonst kein Argument gegen Freiwilligkeit.
Die kontrovers geführte Debatte beinhaltet auch Fragen nach einer Definition von „Menschenwürde“. Die Berliner Soziologin Hella Dietz geht auf zwei unterschiedliche Konzepte ein:
„Dem liberalen Verständnis zufolge markiert Menschenwürde einen Bereich der Unverfügbarkeit für staatliche Gewalt. Der Einzelne soll vor allzu weit gehenden Übergriffen des Staates geschützt werden, innerhalb dieses Rahmens aber selbstbestimmt agieren dürfen. Dem christlichen Verständnis zufolge bezeichnet Menschenwürde darüber hinaus auch eine aus der Gottebenbildlichkeit folgende Unverfügbarkeit der Würde für den Einzelnen […]. Nun berufen sich die Emmas nicht auf die Gottebenbildlichkeit, um den Schutz vor Selbsterniedrigung zu begründen. Doch wie genau ist ihre Position zu rechtfertigen? In welchen Fällen dürfen wir Frauen vor Selbsterniedrigung schützen? Und welche Handlungen fallen unter Selbsterniedrigung? Darüber wird erstaunlich wenig geschrieben.“
Und wo bleibt die Moral?
Von der Menschenwürde ist der Schritt zur Moral nicht weit. In einer Demokratie muss ein gewisses Maß an Toleranz gegenüber unterschiedlichen Moralvorstellungen vorhanden sein. Ob man in einer durchkapitalisieren Welt auch für Sex Geld ausgeben darf oder nicht, ist solch eine Streitfrage.
Einige Prostituierte sprechen von „therapeutischer Hilfe“, die sie leisten, und von „Care-Arbeit“: Im Wandel der Wahrnehmung der Prostitution lässt sich der gesellschaftliche Trend, Sexualität nicht mehr als etwas grundlegend Existenzielles und Dramatisch-Dämonisches zu begreifen, sondern als ein emotional-sportives Element des Wohlbefindens, beinahe wie aus dem Wellness-Katalog, nachvollziehen. Frauenzeitschriften rechnen heute ihren Leserinnen vor, wie viele Kalorien sie beim Sex verlieren können und wie viele Endorphine das Gehirn dabei ausschüttet anstatt über Ekstase und den Orgasmus als „kleinen Tod“ zu schreiben wie noch in den Siebzigern. Diesen Trend hin dazu, Sex zu entdämonisieren, kann man sicher auch als Verlustgeschichte empfinden – leugnen lässt er sich nicht. Zu ihm gehört auch eine Entdämonisierung und Entstigmatisierung der Prostitution und der Menschen, die in diesem Gewerbe tätig sind. Die Gründung des Berufsverbandes erotische und sexuelle Dienstleistungen kann man als Signum dieser neuen pragmatischen Haltung verstehen.
Hat die Autorin Thea Dorn recht, wenn sie meint, dass Prostitution niemals ein Beruf wie jeder andere sein könne? Die Eltern würde sie gern sehen, die zustimmend nicken, wenn ihre 18-jährige Tochter ihnen fröhlich verkünde, sie möchte nach dem Abitur Sexarbeiterin werden. Allerdings ist die Frage danach, welche Berufe gesellschaftlich geächtet werden, eine Frage der Anschauung. Natürlich irritiert der Beruf der Sexarbeiterin viele Menschen. Aber es gibt einige Berufe, die Eltern vor den Kopf stoßen. Freuen sich Eltern, wenn ihre Kinder ihnen mitteilen, dass sie sich um ein politisches Amt bei der NPD bewerben oder zur Fremdenlegion gehen wollen? Ist jeder begeistert, wenn der Sprössling Investmentbroker werden möchte? Oder ein Biologe, der später den ganzen Tag im Labor Affen quält? Sind unsere Vorstellungen von „anständiger Arbeit“ nicht auch dem Zeitgeist geschuldet und wandlungsfähig? Und warum regen wir uns über die mutmaßliche Ausbeutung von Prostituierten auf, wenn wir gleichzeitig ein T-Shirt für 2,99 Euro kaufen, von dem wir genau wissen, dass es von jungen Mädchen in Bangladesch unter menschenunwürdigen Bedingungen produziert wurde? Man muss konstatieren: Wir erwarten passiv von der Politik, dass sie alle Probleme der Welt per Gesetz „löst“ und sind oft selber nicht in der Lage, in unserem eigenen Verantwortungsbereich moralisch vertretbar zu handeln.
Moral hin oder her, das Bedürfnis nach schnell verfügbarem Sex scheint nicht abzunehmen, es steht auch nicht, wie oft behauptet, mit tradierten Vorstellungen von Mann und Frau in Verbindung:
Flucht aus dem Alltag war schon immer ein Motiv für den Seitensprung mit gezückter Geldbörse.
Wenn Entscheidungsträger wie der Kriminologe Pfeiffer sagen, ihn störe das Grundprinzip zutiefst, dass sich Frauen als Ware anbieten dürfen oder die ehemalige Vizechefin des DGB, Ursula Engelen-Kefer, äußert: „Ich finde den Verkauf von Sex und den Verdienst daran schäbig und dreckig“ – dann offenbart sich hier zuvörderst eine persönliche Moralvorstellung, die jedoch als Grundlage für die allgemein gültige Gesetzgebung fungieren soll.
Alice Schwarzer wiederum kämpft nicht gegen Zwangsprostitution und Menschenhandel, sondern für die Abschaffung der Prostitution an sich. Mit einem deutlich moralisierenden Unterton wird hier ein „besserer“ Mensch, vor allem ein besserer Mann, eingefordert. Dieses Ziel ist in jedem Fall unrealistisch. Vielleicht lässt sich wie in Schweden ein Teil der sichtbaren Prostitution abschaffen, nicht aber die Prostitution an sich.
Hella Dietz weist daraufhin, dass sich im Jahr 1993 auch jene Verfassungsrichter, die sich einer christlichen Tradition verpflichtet sahen, für die Straffreiheit von Abtreibungen in den ersten zwölf Wochen und nach Beratung ausgesprochen hatten. Zum einen, weil sie wussten, dass Strafverfolgung Abtreibungen nicht abgeschafft, sondern in die Illegalität gedrängt hatte – mit allen damit verbundenen Konsequenzen für die betroffenen Frauen. Zum anderen, weil nur ein Bruchteil der Abtreibungen entdeckt und bestraft wurde, was unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten problematisch ist.
Die Debatte um das Thema Prostitution wird höchst emotional und subjektiv geführt. Auch stehen sich konträre Positionen bezüglich Opferschutz und Sicherheit auf der einen Seite sowie Selbstbestimmung und Freiheit auf der anderen gegenüber. Entsprechend schwer ist es, zu einer befriedigenden juristischen Lösung zu gelangen.
© Tanja Dückers, Februar-April 2014