Rote Jahre. Die äthiopische Schriftstellerin Maaza Mengiste (Amnesty Journal, April 2013)

veröffentlicht in Amnesty Journal, April 2013

Als Kind musste die äthiopische Autorin Maaza Mengiste erleben, wie sich ihr Heimatland in ein Schlachtfeld verwandelte. In ihrem Buch „Unter den Augen des Löwen“ beschreibt sie am Beispiel einer Familie die gesellschaftlichen Umbrüche der siebziger Jahre.

Literatur aus Afrika ist hierzulande kaum bekannt. Schon die vier afrikanischen Literaturnobelpreisträger John Maxwell Coetzee (Südafrika), Nadine Gordimer (Südafrika), Wole Soyinka (Nigeria) und Nagib Mahfuz (Ägypten) sagen eher Eingeweihten etwas. Mit der Äthiopierin Maaza Mengiste (Jahrgang 1971) hat der Kontinent nun eine junge sprachgewaltige Stimme gefunden, ihr Debütroman „Unter den Augen des Löwen“ wurde in der angelsächsischen Presse als Weltliteratur gefeiert.

Der Roman handelt vom Niedergang des archaisch-feudalen Systems unter Kaiser Haile Selassie und von einem Generationenkonflikt von hoher politischer Brisanz: In den frühen siebziger Jahren erschüttern Studentenunruhen Addis Abeba. Hailu, ein angesehener Arzt und glücklicher Familienvater, versteht nicht, warum junge Menschen auf die Straße gehen und Autos anzünden. Sein jüngster Sohn Dawit schließt sich auch den Protesten an, bis ihn die Gräueltaten, die die Kommunisten verüben, erschüttern: Jeden Morgen liegen Leichen von „Feinden der Revolution“ an den Straßenrändern, hingeworfen für die allgegenwärtigen Hyänen. Nach dem Sturz der fast 3.000-jährigen Monarchie (sie wurde 900 vor Christus errichtet) und der Etablierung des Derg (Provisorischer Militärrat mit marxistisch-leninistischer Ausrichtung) geht Dawit in den Untergrund, sein Vater wird inhaftiert und gefoltert. Dawits alter Freund Mickey, ein Junge aus einer armen Familie, die in Zeiten der Monarchie stets benachteiligt war, steigt bei den neuen Machthabern schnell auf.

Am Beispiel einer Familie und ihres Umfelds werden die psychosozialen Folgen des gesellschaftlichen Umbruchs in Äthiopien eindringlich veranschaulicht. Dabei geraten die Figuren nicht zu Schablonen politischer Ideen, sondern bleiben runde, vielschichtige, auch widersprüchliche Charaktere. Beinahe jeder gerät im Laufe der Unruhen und des Bürgerkriegs mindestens einmal in eine moralische Zwangslage, die ihm schwierige Entscheidungen abverlangt. Auch Nebenfiguren werden mit psychologischer Tiefe ausgestaltet: So hat der Nachbar und Kioskbesitzer Melaku eine unglückliche Liebe nie verwunden. Unter den neuen Machthabern kann jeder jeden denunzieren, was ihm die Gelegenheit dafür bietet, sich zu rächen. Er sorgt dafür, dass seine einstige Liebe und ihr Mann abtransportiert werden. Doch als er mitansieht, wie auch noch der senile im Rollstuhl sitzende Vater der Frau verhaftet wird, befallen ihn Zweifel an seiner Handlung. Er versucht, seine Denunziation rückgängig zu machen, scheitert aber daran: Die drei verschwinden.

Der Roman ist, auch wenn locker, atmosphärisch dicht und temporeich geschrieben, keine leichte Kost: Die Beschreibung der vielen Gräueltaten ist schwer zu ertragen. Äthiopische Leser des Romans haben die Authentizität der Vorkommnisse bestätigt. Ein Hoffnungsschimmer für den Leser bietet das Ende: Vater und Sohn überleben knapp und finden zu einer Aussöhnung.

Der Titel „Unter den Augen des Löwen“ bezieht sich auf das Wappentier Äthiopiens. Auch der Kaiser nannte sich Löwe und hielt sich mehrere zahme Exemplare dieser Großkatzen. Ein Foto, das den Kaiser bei der reichhaltigen Fütterung seiner Löwen zeigt, hat der Studentenbewegung einen entscheidenden Impuls gegeben: Während im Norden des Landes eine furchtbare Hungersnot tobt, hat der Kaiser nichts Besseres zu tun, als seine Löwen mit Leckerbissen zu verwöhnen. Ironie der Geschichte: Unter den neuen Machthabern, den Kommunisten, wird es gute zehn Jahre später eine noch gravierendere Hungersnot geben, ausgelöst unter anderem von einer unsinnigen Umsiedlungspolitik im Zuge von Zwangsenteignungen.

Nach dem Ende der Sowjetunion konnte sich der Derg nicht mehr halten und Äthiopien wurde zum ersten Mal in seiner Geschichte eine, wenngleich autokratisch regierte, parlamentarische Republik. Dennoch kam das Land nicht zur Ruhe. Immer wieder ereigneten sich in den folgenden Jahren bewaffnete ­Konflikte zwischen den zahlreichen ethnischen Gruppen. Die Grenzstreitigkeiten mit dem Nachbarland Eritrea eskalierten in einem blutigen Krieg mit Tausenden von Opfern. Heute unterdrückt die Regierung wieder abweichende Meinungen, verhaftet Oppositionelle und wirft sie ins Gefängnis.

Auch in anderer Hinsicht sind die Schrecken der Vergangenheit nicht vergessen. Obwohl unter der 15-jährigen Herrschaft des Derg vermutlich Hunderttausende Äthiopier getötet wurden, konnte das Staatsoberhaupt, Mengistu Haile Mariam, zusammen mit vielen seiner Anhänger nach Simbabwe fliehen. Er lebt heute unbehelligt in einem Vorort von Harare, unter dem Schutz von Präsident Robert Mugabe. In Addis Abeba wurde er 2008 in Abwesenheit vom Obersten Gerichtshof unter anderem wegen Völkermords zum Tode verurteilt. Amnesty International hatte Südafrika, wo sich Mengistu zwischenzeitlich aufgehalten hatte, vergeblich aufgefordert, ihn vor Gericht zu bringen.

Die Autorin, deren Nachname so ähnlich klingt wie der des Diktators, erwähnt den Namen von Mengistu in dem Buch übrigens nicht. Sie wollte vermeiden, dass sein Name die Geschichte der Opfer überschattet. Indem sie von deren Leiden erzählt, erhofft sich Maaza Mengiste eine Debatte darüber, wieso der frühere Diktator heute frei und unbestraft leben kann. Schließlich ist ihr Leben ebenfalls stark von den politischen Ereignissen in ihrer Heimat geprägt. Während des kommunistischen Umsturzes musste sie 1975 als Vierjährige mit ihrer Familie Äthiopien verlassen, um in Nigeria, Kenia und schließlich in den USA zu ­leben. Sie studierte Creative Writing an der New York University, wo sie heute lehrt.

Mengiste wünscht sich, dass das Buch auch eines Tages in Äthiopien erscheinen kann. „Die jüngere Generation in Äthiopien weiß nicht viel davon, was in dieser Zeit geschehen ist, weil niemand darüber spricht“, erklärte sie in einem Interview. „Es ist immer noch zu schmerzvoll.“

„Unter den Augen des Löwen“ ist in der Afrika-Reihe im Wunderhorn Verlag erschienen. Die Reihe gibt die in Deutschland und Südafrika lebende Kulturvermittlerin, Autorin und Übersetzerin Indra Wussow heraus.

Maaza Mengiste: Unter den Augen des Löwen. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg, 2012. 318 Seiten, 24,80 Euro.

© Tanja Dückers, März 2013


Nach oben scrollen
WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner