veröffentlicht in WELT, Dezember 2011
Seit Henning Sußebachs vor vier Jahren in einem Zeit-Artikel die Gentrifizierung des Ostberliner Bezirks Prenzlauer Berg als „Bionade-Biedermeier“ verspotten, sind die polemischen Berichte über diesen Bezirk inflationär geworden. Das „Bashing“ seiner Bewohner („Ökoschwaben“, „Pornobrillenträger“, „Latte-macchiato-Mütter“) ist längst publizistischer Volkssport. Übertreibungen und Pauschalisierungen sind an der Tagesordnung.
Dabei hat der Begriff „Prenzlauer Berg“ längst eine Bedeutungsverschiebung erfahren und sich zum Synonym für ein neues „aufgeklärtes“ Bürgertum mit seinen eigenen Spießigkeiten hin entwickelt, es wurde zum unhinterfragten Synonym für „urban, etabliert, wohlhabend, mit Kindern“. Auch die „Prenzlauer-Berg-Mutti“ ist längst zur Chiffre für „linksalternative, engagierte, gewissenhafte Mutter“ geworden, die genauso in Stuttgart, Hamburg oder anderswo anzutreffen sein könnte.
Nun hat die „Taz“-Redakteurin Anja Maier auch noch ein Buch zum reichlich überstrapazierten Thema geschrieben. Nach so vielen Wiederholungen des ewig gleichen, fast schon gestrigen Klischees überrascht es wenig, auch in dem Buch wenig Neues zu entdecken. Immerhin: Anja Maier hat für dieses Buch drei Monate in ihrem alten Wohnbezirk recherchiert – üblicherweise laufen Journalisten nur zwei, drei Tage lang durch den Prenzlauer Berg, um dann aus ihren durchsanierten Edelbüros mit Elbblick oder Ähnlichem voller Abscheu über die fulminante Gentrifizierung des Prenzlauer Bergs zu schreiben.
„Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter“ ist vor allem eine Tirade über (andere) Mütter aus dem Prenzlauer Berg. Die Autorin selbst hat bis vor zehn Jahren in diesem Bezirk gelebt und hier eine Tochter bekommen, aber an den wenige Jahre jüngeren Frauen lässt die Ex-„Prenzlauer-Berg-Mutti“ kein gutes Haar. Auch wenn viele Geschichten über naive, überforderte und überengagierte Eltern amüsant zu lesen sind, ist Spaß am Spott als Hauptmovens für ein ganzes Buch zu mager. Die Autorin gibt vor, ein gründlich recherchiertes Sachbuch zum Thema zu schreiben, ihre Herangehensweise ist aber vollkommen subjektiv: Sie sah, was sie sehen wollte, und hörte, was sie hören wollte.
Was nicht ins Bild vom Bezirk der unentspannten, blöden „Edel-Eltern“ passte (und das ist sehr viel), wird ausgeblendet. So erfährt man kaum etwas über die große schwul-lesbische Community des Prenzlauer Bergs, die dem „Nolli“ in Schöneberg längst den Rang abgelaufen hat. Man erfährt nichts über die Türken, die aus dem Wedding in den westlichen Prenzlauer Berg ziehen und hier Geschäfte und Cafés aufmachen, nichts über Vietnamesen und Chinesen, und vor allem erfährt man nichts über (Ost-)Berliner und Zugezogene, die hier friedlich zusammenleben – das gehegte und gepflegte Negativbild vom gentrifizierten, sozial „erkalteten“ Prenzlauer Berg darf nicht ins Wanken gebracht werden.
Es wird so getan, als ob der Prenzlauer Berg der Bezirk der „abgeschotteten, intakten bürgerlichen Kleinfamilien“ sei, dabei hat der Bezirk eine der höchsten Zahlen an Alleinerziehenden in ganz Deutschland: Fast 40 Prozent aller Mütter sind alleinerziehend (möglicherweise sieht man deshalb hier viele Kinder auf der Straße, weil die Mütter oft gezwungen sind, die Kleinen mitzunehmen). Noch so ein Klischee: der Kinderboom. Tatsächlich liegt die Geburtenrate nur geringfügig über dem Berliner Durchschnitt, so das Statistische Bundesamt.
Anja Maier zitiert seitenlang verschiedene Bewohner des Bezirks und lässt ihre Äußerungen unkommentiert: In einem Kapitel spricht eine Caféhaus-Besitzerin von „Rindern“ statt von Frauen und von „Eutern“ statt von Brüsten – sie ärgert sich über in der Öffentlichkeit stillende Mütter. Widerspruch regt sich nicht bei der Autorin. Männer dürfen an Bäume pinkeln, es gilt nicht gerade als edel, aber niemand fühlt sich zu einem Kommentar bemüßigt. Nackte Frauenkörper sind in der Werbung eine Selbstverständlichkeit. Aber Stillen in der Öffentlichkeit? Was diese jungen dreisten Frauen sich da doch rausnehmen!
Auch Spätgebärende, Stillende und Spielplatzpapis werden von Anja Maier kräftig durch den Kakao gezogen. Das „leicht schüttere Haupthaar“ der Väter darf nicht unerwähnt bleiben. Man möchte zurückfragen: Soll man(n) sich jetzt dafür schämen? Ob Stillen im Café, nicht-mehr-ganz-so-junge Mütter, Väter mit Baby im Tragetuch – alles wird auf- und angegriffen. Tatsächlich ist das ein Backlash von links, der eine Fünfzigerjahre-Moral wieder salonfähig gemacht, nur um vermeintlichen „Ökospießern“ eins auszuwischen. Konservative wie von der Leyen setzen sich für die „Vätermonate“ ein, und eine „Taz“-Redakteurin macht sich dann lustig über die Spielplatzväter – grotesk.
Anja Maier zeichnet ein Image von „richtiger“ Elternschaft, und wer von diesen Vorstellungen abweicht, wird verspottet. Auch wenn manches seine Berechtigung hat, stört der Tonfall, in dem hier eine „erfahrene Mutter“ anderen – wie sie meint: blöderen – Müttern den Spiegel vorhält. Vor allem kreiert die Autorin in Zeiten von wachsendem Rechtsextremismus (Rechtsextreme unterwandern mittlerweile besonders gern Kitas und andere pädagogische Einrichtungen) ein falsches Feindbild: Die paar (Öko-)Muttis, die ihrem Kind ein Soja-Eis zu viel kaufen, sind zu harmlos, um ihnen 253 lange Seiten zu widmen.
© Tanja Dückers, Dezember 2011