veröffentlicht in Jungle World, Juli 2003
veröffentlicht in Jungle World, Juli 2003
Jenseits der Prager Altstadt
Was verbinden Sie mit Prag? Die Karlsbrücke, den Wenzelsplatz, Smetanas Moldau-Sinfonie, die Prager Burg? Jaroslav denkt bei dieser Frage an den gigantischen Fernsehturm vor seinem Fenster. Stania fällt sofort ihre kleine Wohnung im Arbeiterviertel Brevnov ein, wo noch viele Uralt-Skodas rumfahren. Und Iva antwortet nicht und guckt nur auf die Industrieruine vor ihrer Haustür und die vielen Plattenbauten am Horizont. Aber der geneigte (West-)Tourist täuscht sich, wenn er glaubt, dass Leute wie Jaroslav, der in einer krachig-punkigen Band namens »U-Bahn« (er hat mal in Berlin gelebt) spielt, mit »ihrem« Prag nicht zufrieden sind. Er täuscht sich, wenn er Stania, die hellblond gefärbte fransige Haare, ein rosa-lila gestreiftes Flatterglitzerkleid und flamingofarbene Plastikohrringe trägt, für eine prollmotzige Supermarktverkäuferin hält. Stania spricht fünf Sprachen und ist pensionierte Professorin.
In der Altstadt hat sie dennoch nichts zu suchen. Genauso wenig wie Iva, eine der erfolgreichsten tschechischen Schriftstellerinnen, die sich im immer noch von der Flut zerstörten Randbezirk Karlín eine Datscha installiert hat, um in Ruhe schreiben zu können. Auch Jaroslav hat Besseres zu tun, als in der Altstadt abzuhängen: Rund um den gigantomanen Fernsehturm, der die Prager Burg in verschiedener Hinsicht in den Schatten stellt, gibt es jede Menge düsterer Kaschemmen, in die nachts Irre hineinwandern, mit einem Beil eine mitgebrachte Leiter zerhacken und mit den Worten »War Kunst« wieder sabbernd abziehen.
Für viele der jüngeren Tschechen oder der Intellektuellen wie Stania ist die Prager Altstadt schlicht eine Operninszenierung, die mit dem wirklichen Leben herzlich wenig zu tun hat. Gelegentlich trifft man sich dort mit Ausländern, trinkt Kaffee in der berühmten »Kavárna Slavia« an der Moldau, um den Gast dann in die lebendigen, industrieromantischen Viertel Zizkov und Vinohrady zu entführen. »Wollen wir morgen Abend zizkovieren?« So oder ähnlich lauten die vielversprechenden Einladungen, die sich jüngere Tschechen per SMS zusenden.
Um Prag »richtig« kennenzulernen, hat Jaroslav noch andere Tipps parat: »Nimm Metrolinie C und steig’ an der Endhalte aus. Und hör’ mal in die neue CD von Indie&Wich rein.« Beides tat ich: Seitdem weiß ich, dass es – so, wie es für Eskimos zwanzig verschiedene Sorten von Schnee gibt – für Osteuropäer mindestens fünfzig verschiedene Plattenbautypen geben muss. Über Belle-Etage-Wohnungen und Protz-Altbauten, die reiche Amis in der Altstadt anmieten, spricht man erst gar nicht: Zwischen »Edelplatte« und »Schrottplatte« rangiert hingegen ein Imperium. Da gibt es die bunt angemalten Kästen mit naher Metro-Anbindung und integriertem Einkaufszentrum, aber auch die grauen, früher einmal weißen Kästen mit rußgeschwärzten Balkons, die meilenweit von der nächsten Halte entfernt sind.
Nur etwa sieben Prozent der Stadtfläche macht die Prager Altstadt aus (das ist weniger als das Verhältnis Manhattan/New York). Und aus diesem gewaltigen Gürtel von Außenbezirken oder Satellitenstädten stammt die Prager Hip Hop-Szene, unglaublich groovy, raffiniert und subversiv edelplattenelitär. Eine gute Alternative zu Smetana.
© Tanja Dückers, Juli 2003