veröffentlicht in Jungle World, Dezember 2001
Vor den Kameras von CNN rücken die USA nach den Anschlägen zusammen. Backstage sieht es anders aus.
Vom Wind gebauschte Stars-and-Stripes, Fähnchen auf Käsehäppchen, Kopfkissen in Rot-Weiß-Blau, ganze Schaufensterkollektionen in den vermeintlichen Primärfarben – in Pennsylvania, dem Mecklenburg-Vorpommern der Vereinigten Staaten, sprießt jede Blüte des Nationalismus, doch die Studenten, die aus New York wegen der hohen Studiengebühren in die Provinz geflüchtet sind, lachen über den US-Tand. Mein Student Paul trägt die jamaikanische Flagge auf seiner Jeansjacke, Jessica, die, nach ihrem Berufswunsch gefragt, knapp mit »Hillary« antwortet, sagt am 11. September – obwohl noch in Sorge um ihre in New York City lebenden Eltern – nachdenklich: »In a way we deserved this.«
Jessica ist 19 Jahre alt. Paul hasst das College, den Bundesstaat, das ganze Land, und will am liebsten »ganz weit weg« gehen, irgendwo eine Landkommune gründen. Aber seine Eltern halten nicht viel von dieser Idee. Sie haben ihm auf ärztliches Anraten eine teure »Licht-Lampe« gekauft, um etwas gegen seine Depressionen zu unternehmen. Mrs. Bond, meine Trompetenlehrerin, eine rüstige Mittfünfzigerin, die ihre Hunde Tessie und Jack wöchentlich auf Hundeshows vorführt, schüttelt den Kopf bei Bushs erster Rede nach dem 11. September. »Tessie, Jack and me can’t understand how we could get that monkey for president.«
Hieß es nicht, das amerikanische Volk würde jetzt »geschlossen« hinter seinem Präsidenten stehen? War »America Unites« nicht nach dem 11. September wochenlang ein CNN-Slogan? Und sollte nicht mindestens die Provinz begeistert Bush gewählt haben? Bei meinem diesjährigen USA-Besuch – nach 18 Jahren »Beobachtung« dieses Lands, in dem ich viermal an unterschiedlichen Orten gelebt habe – präsentiert sich mir die Bevölkerung zerstritten und uneinig wie nie zuvor. Da laufen bei Wal Mart ältere Herren in selbstbeschrifteten »Dead or Alive«-T-Shirts herum – ihre Ehefrauen schließen ihnen beschämt den Jacken-Reißverschluß überm Bauch. Ein Wirtschaftsdozent schreibt einen flammenden Artikel über »Ausgrenzung und Diskriminierung arabischer Studenten«, der die In-Schutz-Genommenen wiederum wenig interessiert.
Ein Russisch-Professor veröffentlicht einen langen Essay mit dem Titel »Further Reflections On Why They Hate Us«, in dem er den Unwillen seiner Mitbürger, andere Länder und Sprachen kennenzulernen, kritisiert und die provozierende Frage stellt, ob die Anschläge vom 11. September zu verhindern gewesen wären, wenn die CIA-Mitarbeiter über bessere Arabischkenntnisse verfügt hätten und sie die Unmengen an Datenmaterial, die monatlich anfallen, hätten entschlüsseln können. Doch die Putzfrau des Russisch-Professors murmelt in einem Selbstgespräch, während sie sein Zimmer ausfegt: »We should throw some bombs.« In Kirchen streiten sich Informatikstudenten mit Pastoren über die Definition von Pazifismus, ein Vortrag über den »Islam heute« sprengt den Hörsaal des kleinen Provinzcollege in der Mitte von Nirgendwo: Die nächste größere Stadt hat 12 000 Einwohner und zwei Kneipen, die Penny-Bar, wo eine Limonade 50 Cents kostet, und die »Safari-Bar«, wo Elchköpfe einem in ewiger Starre beim Essen zusehen.
Auch die Panik vor neuen Angriffen scheint die zerstrittenen Amerikaner nicht zusammenzuschweißen. Die einen fragen bei Wal Mart nach Gasmasken und im Drugstore nach Antibiotika, die anderen schütteln in der Schlange vor der Kasse den Kopf über ihre Nachbarn. Paul hat, wie er sagt, nachts vorm Einschlafen Angst, plötzlich zur Armee zu müssen. Jessica, die mit Paul im gleichen Studententrakt wohnt, äußert mit ernster Miene, dass die Bude aber wesentlich sauberer wäre, wenn er nach Kabul abzischen würde. Ihr Kommilitone – das Wort meint in seiner ursprünglichen Bedeutung »Mitsoldat« oder »Waffenbruder« – findet das nicht lustig.
Die größten Kriegsfreunde an diesem kleinen College scheinen ein paar Deutsche zu sein, die offenbar meinen, ihren amerikanischen Kollegen ihre Loyalität auf diese Weise unter Beweis stellen zu müssen. Jedes Mal, wenn die Amerikaner ausnahmsweise über ein anderes Thema als die Anschläge sprechen, gucken sie indigniert und unterbrechen das Gespräch mit pathosgetränkter Stimme, um unwichtige Einzelheiten aus einem Interview mit dem eh nicht für zitierwürdige Sätze bekannten Ashcroft wiederzugeben.
Nur über eines scheinen sich die Amerikaner einig zu sein: Die »Utopia« sinkt. Nicht nur der Glaube an eine für Gegner unüberwindbare »splendid isolation« ist verloren gegangen, sondern vor allem der Glaube an eine US-amerikanische Identität und Einheit. Wahrscheinlich haben viele (weiße) Amerikaner zum ersten Mal seit den Anschlägen zur Kenntnis genommen, dass 20 Millionen Araber in »ihrem« Land wohnen, viele Mittel-und Südamerikaner äußern Dissenz mit den von CNN verbreiteten Ansichten und fallen durch penetrantes Feiern in einer Zeit der »kollektiven Trauer« auf – in Krisensituationen schaut man sich seine Nachbarn genauer an -, plötzlich wird die frappierende Heterogenität der Vereinigten Staaten wieder spürbar.
Viele Amerikaner haben ein geradezu pathologisches Bedürfnis, eine »Geschlossenheit« zu demonstrieren, die aber gar nicht vorhanden ist. Nichts anderes steht hinter der notorischen Flaggen-Hiss-Obsession. Das Land, 1861 bis 1865 vom Bürgerkrieg zerrüttet, hat die Folgen dieser Nord-Süd-Dichotomie bis heute nicht wirklich überwunden.
Das größte Einwanderungsland der Welt (allein über den Rio Grande flüchten jedes Jahr 750 000 Mittelamerikaner nach Kalifornien und Texas) kann nicht in irgendeiner anderen Form existent sein denn als Mosaik, wie kaum ein anderes Land ist es durch die Absenz genuiner Charakteristika gekennzeichnet (da die Indianer und ihre Kultur fast vernichtet wurden). Die altbekannte Tatsache, dass die Amerikaner auf eine nur 300jährige Geschichte zurückblicken, vermittelt angesichts der Reaktionen in der Bevölkerung nach dem 11. September einen neuen Eindruck von der inneren Fragilität dieses Zufallslandes, dem wirklich verbindende Elemente in der Bevölkerung fehlen. Im Hinblick auf diese soziokulturelle Fragilität kann Deutschland als vergleichbar mit den USA bezeichnet werden.
Die Amerikaner haben keine Geschichte, und die Deutschen eine diskreditierte. In beiden Ländern, die nicht zufälligerweise nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einander näher gekommen sind, ist subliminal immer wieder eine Verzweiflung über diese mangelnde Verortung des Individuums im Ganzen spürbar (wer jemals in einem südeuropäischen Land gelebt hat, wird bemerkt haben, mit welch unreflektierter Geschmeidigkeit sich der Einzelne in die allgegenwärtige Gemeinschaft einordnet, zum Beispiel wie »fiestas« in Spanien sowohl von alten, konservativ ausgerichteten Menschen als auch von jungen »Partygängern« gemeinsam begangen werden).
Die politischen Repräsentanten Deutschlands fielen in den letzten Wochen durch Demutsgesten auf; der markant masochistische Satz »Wir sind alle Amerikaner« lässt die Frage aufkommen, ob vielleicht das gemeinsame Schicksal einer nicht vorhandenen oder verloren gegangen kulturellen Identität bei dieser transatlantischen Verbrüderung Pate gestanden hat? Zumindest hat es viele Früchte getragen: Dass Importe der US-Kultur in Deutschland ubiquitär vorhanden sind – anders als in fast allen anderen europäischen Ländern -, hat sicherlich mit dem spezifischen Vakuum zu tun, das in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg entstand, als »Anknüpfung an die Vergangenheit« aber nicht ohne Weiteres möglich war.
Anstatt Heterogenität und Flexibilität als Signum und kulturelles Aushängeschild zu gebrauchen, versuchen die USA jedoch, es anderen Ländern in ihrer Sucht nach Nationalcharakter und stabiler Identität nachzutun. Der 11. September allerdings verdeutlicht wie kaum ein Ereignis zuvor, wo die Chancen und Schwächen der US-spezifischen Situation liegen.
Wie Jean Baudrillard in seinem Essay »America« (1986) konstatierte, lag gerade in der Abwesenheit einer genuin amerikanischen Kultur (immer miteingeschlossen, dass die Kultur der Indianer mehr oder weniger ausgerottet wurde) die Chance wesentlicher Neuanfänge. Ein Großteil der deutschen Intelligenzia wanderte in den dreißiger und vierziger Jahren in die USA aus – und die Kulturhauptstadt der Welt verlagerte sich als direkte Konsequenz aus dem Dritten Reich von Paris nach New York. Bedeutende Künstler wie Barnett Newman, der neben Jackson Pollock und Mark Rothko zum Sprachrohr der Abstrakten Expressionisten avancierte, erklärten kühn, die europäische Kultur befände sich mit ihrem ewigen Bedürfnis nach ausgewogener Bildkomposition, das sich im Grunde nie vom Harmonieverständnis der Antike entfernt habe, auf dem Holzweg. Man wollte an die Kunst vor der Antike, also »vor der Geschichte« anknüpfen. Amerika wurde als Ort einer sublimen Ästhetik, sowohl in seiner grenzenlosen, kontrastreichen Topografie wie auch in der Kunst, Europa als Hort einer kontrollierten, gefangenen, pittoresken Ästhetik empfunden.
Natürlich haben auch europäische Künstler immer wieder ihre Kritiker herausgefordert, aber die Kühnheit, der Verzicht auf historische Referenz – nur mit der »Stunde Null«, der »Kahlschlaglyrik« in Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vergleichbar – zeichnete die amerikanische Kunst nach 1945 aus. Warhol ist ein populäres Beispiel, dessen Voraussetzungslosigkeit in der Kunst vielleicht mehr fasziniert als seine auf die Dauer langweiligen Werke selbst. Er ist weniger ein »Meister« als ein Präzedenzfall. Diese Voraussetzungslosigkeit hat den Amerikanern lange Zeit das Gefühl gegeben, sowohl auf einer kulturell vakanten Bühne ohne verstaubte Büsten zu agieren, als auch politisch nicht im Schatten einer schreckensgeprägten Vergangenheit zu stehen und im gegenwärtigen Handeln nicht paralysiert zu sein. Dabei sei wieder angemerkt, dass die Verdrängungsleistung der Amerikaner in Bezug auf den Genozid an den Indianern sehr ausgeprägt ist: Da die meisten Amerikaner ihrer Herkunft nach oder ihrer Meinung nach erst später »hinzukamen«, fühlt sich niemand für nichts verantwortlich. »Keiner war’s gewesen.«
Die USA als Utopia für die Europäer, das gelobte Land während des Zweiten Weltkriegs. Villa Aurora: weißer Palast am kalifornischen Pazifik, Wohnsitz der Exilanten Lion und Martha Feuchtwanger, Treffpunkt von Geistesgrößen und illustren Künstlern wie Brecht, Thomas und Heinrich Mann, Döblin, den Werfels, Adorno, Horkheimer, Horowitz, Schönberg, Toch, Rubinstein, Paul Dessau, Fritz Lang, Marlene Dietrich – um nur ein paar aufzuzählen. Nach Meinung einiger Kulturwissenschaftler hat es noch nie an irgendeinem Ort (ausgenommen vielleicht das Paris der zwanziger Jahre) eine solche lokal überschaubare Simultanität berühmter Künstler und Denker gegeben. Das lasterhafte Los Angeles als Zentrum der Jahrhundert-Kreativen? Schlicht: Ja.
»What is thought of in Europe becomes reality in America (…)«, notiert Baudrillard über den »Alles ist möglich!«-Mythos, mit dem Amerika sich selbst bewirbt. America beschreibt er sehr treffend als »achieved utopia«. Ein Land, in dem von Utopien nicht geträumt wird, sondern ihre direkte Umsetzung naiv und respektlos angegangen wird. »Fait accompli« nennt Baudrillard diese »uneuropäische«, da »konkretisierte« Utopie. Die bekannte Reisemaxime »Europe in five days«, wäre ein Beispiel hierfür.
In den fünfziger und sechziger Jahren verlieren die USA durch ihre paranoid betriebene Kommunistenhetze sowie die Katastrophe des Vietnamkriegs den Status der (natürlich eh imaginären) »unbelasteten neuen Welt«, in der Thomas Mann mit weißem Anzug und Strohhut statt an der Ostsee unter Palmen flanierte, während in Deutschland seine Bücher verbrannt wurden. Plötzlich gründet sich die Faszination für dieses Land nicht mehr auf die Bewunderung für die kulturlosen »edlen Wilden« auf der anderen Seite des Atlantiks, sondern für die gerissenen Geschäftsmänner, die nach dem Zusammenbruch des Ostblocks als »Herren der Welt« (Spiegel-Titel 1997) ebenso nonchalant wie subkutan grausam die terrestrischen Geschicke dirigierten.
Amerikanismus wandelt sich in Antiamerikanismus, und die USA geraten zur Negativ-Utopie: das Land, das die skrupellosesten Amokläufer hervorbringt, in dem Schüler ihre Lehrer erschießen, christliche Fundamentalisten Abtreibungsärzte niedermetzeln, Richter drakonische Strafen für Drogenbesitz verhängen, in L.A. gewaltige Rassenunruhen (1991) toben, die dicksten Leute leben, die hysterischsten Frauen in den miesesten Soaps spielen, das schlechteste Essen serviert wird etc etc.
Dass der bisher größte Terrorakt die USA traf, korrespondiert mit der naiven europäischen Vorstellung von der »Unermesslichkeit«, die dieses Land in jeder Hinsicht – »in good or bad« – ausmacht. Schließlich waren die Amerikaner die erste und einzige Nation, die die Atombombe abwarfen …
Doch mit ihrem Profil als »Negativ-Utopia« haben die USA immer noch ihre Gegner fasziniert. Die düsteren, US-kritischen Bücher von Bret Easton Ellis waren ein ungemeiner Verkaufserfolg in Europa. Die USA waren immer noch eines der beliebtesten Reiseziele für deutsche Touristen, kurz nach Spanien und Italien. Schimpfen über die Vereinigten Staaten war zwar en vogue, die Green Card wollte aber jeder. Für die albernen Marlboro-Reisen bewarben sich jedes Jahr Tausende, die sicherlich als gesinnungskorrekte Globe Trotter auch mal über die »Auswüchse der Werbung« herzogen. Während sich für den gepflegten Antiamerikanisten durch die kriegerische Intervention in Afghanistan nur bestätigt, was er »schon immer gewusst hat«, die Negativ-Utopie also leuchtend in den Farben des Teufels fortlebt, bricht für die Amerikaner hingegen ihr fragmentiertes Selbstbild zusammen. Es ist, als hätte man einem in die Jahre gekommenen Zauberkünstler plötzlich unsanft zu verstehen gegeben, dass man alle seine Tricks durchschaue.
»It is not the least of America’s charms that even outside the movie theatres the whole country is cinematic«, schrieb Baudrillard 1986. »Where is the cinema? It is all around you outside, all over the city, the marvellous, continuous performance of films and scenarios.«
Der Glaube an die Fiktion vom eigenen Land – stark genug, um junge Amerikaner, die nie außerhalb der US-Grenzen gereist sind, wie in Trance sagen zu lassen: »America is the greatest country in the world« – wurde durch den Vietnam-Krieg verletzt, doch dieses kollektive Trauma wurde vom »Sieg« über den Kommunismus wieder verdrängt. Nie ging es den Amerikanern so gut wie in der letzten Dekade, ein Haushaltsüberschuss in Billionenhöhe. Man konnte es sich leisten, über Triviales wie das Sexualleben des Präsidenten zu parlieren, während anderenorts Kriege geführt, Städte und Länder verwüstet wurden oder schlicht in Armut versanken.
Die Verwirrung und Verzweiflung vieler Amerikaner, die ich nun traf, war grundlegend und fällig. Entropisch, chaotisch, ungelenk – für den »Koloss«, den bin Laden in seiner »David und Goliath«-Theorie skizziert hat, ist der Verlust der eigenen »magischen« Identität schwerer zu verkraften als alles andere. New York als Signum des »fait accompli«, der real gewordenen Utopie, fungierte als Zielscheibe, und kein David Copperfield zaubert die Zwillingstürme wieder her.
Die Angriffe auf das World Trade Center und das Pentagon haben so wenig eine sozial integrative Wirkung wie vor Beginn des Ersten Weltkriegs die Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand im von verschiedenen Interessen zerrissenen Deutschland. Zu Beginn des Dritten Weltkriegs, bei dem Angreifer und Gegner beiderseits von zahllosen, nur zum Teil der (Welt-) Bevölkerung bekannten Ländern aus operieren, führt die komplexe Situation in einem hoch individualisierten Land, bei dem kaum die Hälfte der Bevölkerung überhaupt genug »Vaterlandsliebe« verspürt, um auch nur einen Wahlzettel auszufüllen, zu einer weiteren Desintegration; die Fahnen auf CNN bezeugen nur den aus Angst geborenen Reflex, die undirigierbaren Massen, verstreut über ein gigantisches Land, zu einem seit dem 11. September immer unglaubhafter gewordenen nationalen Identitätsgefühl bekehren zu müssen. Natürlich läuft in vielen Haushalten CNN. Aber »die« Amerikaner essen Kartoffelchips. Oder Hummus-Fladen. Oder Sojabohnen-Cake. Oder fahren zur nächsten Hunde-Show. Oder stellen sich wegen unerklärlicher Depressionen unter gleißend helles Licht.
© Tanja Dückers, November-Dezember 2001