Schriftsteller und sensibler Aktivist – warum uns Heinrich Böll heute fehlt (Vortrag Böll-Stiftung Thessaloniki, April 2017)

Schriftsteller und sensibler Aktivist: Warum uns Heinrich Böll heute fehlt

 

Von Tanja Dückers

Kaum ein deutschsprachiger Schriftsteller hat zu seinen Lebzeiten so viel Anerkennung erhalten wie Heinrich Böll. 1972 wurde der Kölner Schriftsteller mit dem Nobelpreis geehrt. Sein größter Erfolg, die Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ (1974), verkaufte sich allein in Deutschland bis zum Jahr 2007 drei Millionen Mal. Dreizehn Werke von Böll wurden verfilmt. Für sein gesellschaftspolitisches Engagement war er ebenso bekannt .

Wer war dieser Heinrich Böll, der nach seinem Tod, im Jahr 1985, einige Jahrzehnte lang etwas in Vergessenheit geraten zu sein schien, und der heute – gerade aufgrund seiner Einmischung, seiner Stellungname zu gesellschaftspolitischen und ökologischen Themen – aktueller denn je erscheint?

Heinrich Theodor Böll wurde am 21. Dezember 1917 in Köln geboren, hätte also in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag gefeiert. Er ist nicht wirklich alt geworden, mit 67 Jahren starb er an den Folgen eines Gefäßleidens am 16. Juli 1985 in Langenbroich, einem kleinen Ort in der Eifel. Seine Familie war stark katholisch geprägt und lehnte den Nationalsozialismus ab. Eine wichtige Erfahrung wird auch die Armut in Bölls Kindheit gewesen sein. Die Inflation von 1923 hatte zum Bankrott des väterlichen Geschäfts geführt. Die Familie musste in eine kleinere Wohnung umziehen. Dazu sei angemerkt, dass es sich um eine zehnköpfige Familie handelte – Heinrich Böll hatte sieben Geschwister.

In die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg fallen eine begonnene Buchhändlerlehre, ein angefangenes Germanistik- und Philologie-Studium und auch erste literarische Versuche. Aber schon im November 1938 wurde Böll zum Reichsarbeitsdienst der NSDAP eingezogen und musste an anderen militärischen Übungen für junge Rekruten teilnehmen. Vom Herbst 1939 bis April 1945 war er Soldat und kam in amerikanische Kriegsgefangenschaft bis Herbst 1945.

Böll, aus einem sehr katholischen, wertefundierten Haushalt stammend, stand dem NS-Regime von Anfang an kritisch gegenüber. Anders als etwa der zehn Jahre jüngere Günter Grass war Böll auch zu Zeiten der militärischen Erfolge des Dritten Reichs weder hitler- noch kriegsbegeistert. Während Grass sich freiwillig zur Waffen-SS meldete, versuchte Böll, dem Krieg zu entgehen. Den ganzen Krieg über unternahm er alles, um dem Dienst zu entkommen. Zunächst schrieb er Freistellungsgesuche, um studieren zu können, später zog er sich künstlich Krankheiten zu oder fälschte Urlaubsscheine. Viermal wurde er verwundet.

Bölls Kriegserfahrungen sind dokumentiert in der 2001 veröffentlichten zweibändigen Ausgabe seiner „Briefe aus dem Krieg 1939-1945“. Während eines Fronturlaubs 1942 heiratete Heinrich Böll Annemarie Cech, die er bereits seit längerem gekannt hatte. Ihr erster Sohn Christoph starb noch in seinem Geburtsjahr 1945. Die Söhne Raimund, René und Vincent kamen nach dem Krieg zur Welt.

Nach Kriegsende nahm er das belletristische Schreiben wieder auf. Doch damit konnte er wenig zum Familienbudget beitragen. Deshalb übte er noch verschiedene Gelegenheitsjobs aus. Sein Lektor erinnert, Böll habe die Berufung zum Schreiben nicht über die Fürsorge für die Familie gestellt:„obwohl ich manchmal glaube, eine Aufgabe zu haben, so ist mir die Literatur doch im Grunde genommen keine unglückliche Stunde meiner Frau oder meiner Kinder wert.“ In dieser schwierigen Zeit ernährte vor allem seine Frau mit ihrem regelmäßigen Einkommen als Lehrerin die Familie.

Unter dem Titel „Kreuz ohne Liebe“ entstand ab Juli 1946 der erste Nachkriegsroman. Ab 1947 erschienen erste Kurzgeschichten von Böll in Zeitschriften. Sie können als Kriegs-, Trümmer- und Heimkehrerliteratur bezeichnet werden. Zentrale Themen sind die Erfahrung des Krieges und die unmittelbare Nachkriegszeit mit ihren Nöten wie auch die Richtungskämpfe zwischen ehemaligen Nazis, Opfern des NS-Regimes und Streitern für ein anderes, demokratisches Deutschland. Drei Jahre nach dem Krieg, als viele Menschen noch in Trümmern lebten, fühlte sich Böll schon unverstanden und konstatierte: „Mein eigentliches Gebiet ist ja offenbar der Krieg mit allen Nebenerscheinungen und keine Sau will etwas vom Krieg lesen oder hören (…) das macht dich verrückt.“

Einige der besten Kurzgeschichten erschienen 1950 in dem Sammelband „Wanderer, kommst du nach Spa…“, der Bölls Ruhm als Kurzgeschichtenautor begründete. Seine kurzen, einprägsamen und emotional knapp dosierten Sätze brachten ihm den Ruf ein, der deutsche Hemingway sein.

Zu einem ersten großen Erfolg für Heinrich Böll wurde sein Debüt bei der Gruppe 47 im Mai 1951. Zwar hatte Böll zu diesem Zeitpunkt bereits einige Werke veröffentlicht, doch ohne damit auf große Resonanz zu stoßen. Böll las die Satire „Die schwarzen Schafe“. Eine für sein Erzählen typische Erzählung über eine Familie, in der es in jeder Generation einen „Verlierer“ gibt. Natürlich ist aucch der Erzähler ein Verlieren. Und mit diesem Beitrag gewann Böll! In der Folge erhielt er einen Autorenvertrag beim Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch, der sein Hausverlag wurde. Die anschließenden Jahre – die fünfziger und sechziger Jahre – bildeten die schöpferischste Phase im Leben Heinrich Bölls. Er brachte zahlreiche Werke hervor – unter anderem „Wo warst du, Adam?“ (1951), „Und sagte kein einziges Wort“ (1953), „Haus ohne Hüter“ (1954), „Irisches Tagebuch“ (1957), „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen und andere Satiren“(1958), „Billard um halbzehn“ (1959), „Ansichten eines Clowns“(1963) und „Ende einer Dienstfahrt“ (1966) ). Der Erfolg dieser Werke führte zu mehr finanzieller Sicherheit für die Familie Böll. Seit dem Jahr 1954 verbrachte der Autor seine Sommerferien gerne auf der zu Irland gehörenden Insel Achill Island.

Bölls großes Thema in seinen früheren Werken waren der Krieg und die unmittelbare Nachkriegszeit: Romane wie „Und sagte kein einziges Wort“, „Haus ohne Hüter“ und „Billard um halb zehn“ beschäftigen sich mit der damals noch sehr zaghaften Aufarbeitung des Nationalsozialismus, stießen aber zunehmend nicht nur bei der gesellschaftlichen Avantgarde auf Gehör.

 

Der gesellschaftspolitisch aktive Schriftsteller

„Einmischung ist die einzige Möglichkeit, realistisch zu bleiben.“ (Heinrich Böll)

 

Böll hat nicht durch seine Literatur gewirkt: Er war auch ein politisch aktiver Schriftsteller und Zeitgenosse, im Sinne des aufgeklärten, verantwortungsbewussten Citoyens. In der Ära Konrad Adenauers nahm Böll eine Gegenposition zum restaurativen Zeitgeist ein und galt auch in der Folgezeit als Protagonist der deutschen Linksintellektuellen. Er war ein Achtundsechziger, ein Vietnam- und Atomkriegsgegner, vor allem auch Obrigkeits- und Kirchenkritiker und Pazifist.

Er engagierte sich für Willy Brandt und dessen Ostpolitik. Aber parteilich wollte er sich nicht binden. Böll stand Brandt nahe, aber er war, anders als Grass, nie Mitglied der SPD. Er bezog zwar zu konkreten politischen Fragen Stellung, wollte sich aber von niemandem vereinnahmen lassen. Er wollte nie ein Repräsentant sein. Sein Feld blieb das Individuelle, das Persönliche.

Er war dabei kein Ideologe, nicht verhaftet in gesinnungspolitischem Lagerdenken, er hat sowohl die NATO-Staaten wie auch den Warschauer Pakt kritisiert. So hat er 1956 eine Petition gegen Einmarsch der Russen in Budapest unterzeichnet. Er trat auch für verfolgte Schriftsteller ein. Die sowjetischen Schriftsteller und Dissidenten Alexander Solschenizyn (1974) und Lew Kopelew (1980) nahm Böll nach ihrer Ausreise als Gäste in seinem Haus auf. Aber Böll hat sich auf der anderen Seite auch nachdrücklich für einen menschenwürdigen Umgang mit Terroristen eingesetzt: So hat er sich in seinem „skandalösen“ Spiegel-Artikel „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“ (1972) mit Person und Werdegang von Ulrike Meinhof beschäftigt und ein gewisses Verständnis zum Ausdruck gebracht. Ulrike Meinhof hatte sich zunächst in der evangelischen Reformbewegung engagiert, das interessierte Böll. Gudrun Ensslin war Tochter einer evangelischen Pfarrersfamilie. Wie konnten diese Frauen zu top-Terroristinnen des deutschen Linksextremismus werden? Der Titel „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“ war vom Spiegel gegen Bölls Willen verändert worden, die durch die Nennung des Vornamens suggerierte Vertrautheit des Autors mit Meinhof entsprach weder Bölls Intention noch dem Inhalt des Textes. In konservativen Kreisen galt er seitdem als „geistiger Sympathisant“ des Terrorismus, worunter Heinrich Böll litt.

Die Wiederaufrüstung beunruhigte Böll. Er unterstützte die gegen die NATO-Nachrüstung gerichtete Friedensbewegung, nahm wiederholt an Friedensmärschen und an der Sitzblockade des Raketenstützpunktes auf der Mutlanger Heide teil.

Ferner hat ihn immer die mangelhafte Aufarbeitung, was NS-Größen in der Bundesrepublik anging, umgetrieben. Beate Klarsfeld, die den CDU-Bundeskanzler Kiesinger wegen seiner NS-Vergangenheit öffentlich geohrfeigt hatte, schickte als Zeichen der Anerkennung einen großen Blumenstrauß nach Paris.

Bölls Interesse galt Menschenrechten, Integrität, moralischen Ansprüchen jenseits geopolitischer Zuordnungen in Zeiten des Kalten Kriegs. Ja mehr noch, sie waren ihm eine Herzensangelegenheit.

Ende der siebziger Jahre unterstützte er Rupert Neudeck in dessen Engagement für die vietnamesischen „boat people“, aus dem später die Hilfsorganisation „Cap Anamur / Deutsche Not-Ärzte“ hervorging. Böll war im Übrigen von 1970 bis 1972 Vorsitzender des deutschsprachigen und auch des internationalen PEN-Clubs (1971 bis 1974) und wußte diese Position für sein Engagement zugunsten verfolgter Schriftsteller und Schriftstellerinnen gut auszunutzen.

Mit der katholischen Kirche hat sich Böll Zeit seines Lebens kritisch auseinander gesetzt. 1976 trat er demonstrativ aus der Kirche aus, ohne deswegen jedoch, wie er klarstellte, „vom Glauben abgefallen“ zu sein. Er hatte sich nicht vom Gleuben, sondern von der Kirche als Institution abgewandt, die allzu leicht mit der Adenauer-Republik und der konsumistischen Industriegesellschaft ihren Frieden gemacht hatte. Mit seiner Haltung wurde er sehr vielen jungen Leuten zum Vorbild.

Bei allem gesellschaftspolitischen Engagement auf unterschiedlichen Feldern hielt Böll aber am Primat der Literatur über der Politik fest. Radikale Thesen, wie wie sie von Teilen der kulturrevolutionären Generation der 68er propagiert wurden – Literatur, die nicht explizit politisch ist, habe keine Existenzberechtigung – lehnte er ab. Bei ihm durchdringen sich Literatur und gesellschaftspolitische Stellungnahme gegenseitig. Sein gesellschaftspolitischer Ansatz war immer der eines Schriftstellers, sein Blick blieb auf das Individuum gerichtet.

Der Schriftsteller schreibt nicht von oben Geschichte, verallgemeinert nicht und kommt niemals zu absoluten Ergebnissen, sondern beschreibt große Geschichte anhand der kleinen, privaten, anhand einer Figur und deren Lebensumfeld.

Immer wieder ist es Böll gelungen, in der Luft liegende Themen aufzufangen und literarisch zu filtern. Fast alle seine Sujets haben noch heute eine beinahe unheimliche Aktualität: So beschreibt Böll in „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ (1974) die Verfolgung einer jungen Frau durch die Medien. Die Gnadenlosigkeit der sensationslüsternen Presse lässt die Protagonistin schließlich zu einer Verzweiflungstat schreiten. „Die ZEITUNG“, wie Böll sein fiktives, wenngleich an die „BILD“ erinnerndes Boulevardblatt nannte, wäre heute wohl ein digitales Medium, vielleicht Facebook. Die Erzählung wurde in über 30 Sprachen übersetzt, von Volker Schlöndorff verfilmt und allein in Deutschland bis 2007 knapp drei Millionen Mal verkauft. Konservative Kreise, darunter der spätere Bundespräsident Carl Carstens, lehnten das Buch dagegen vehement ab und rückten es in die Nähe zum Linksterrorismus, ungeachtet der Tatsache, dass dies in völligem Widerspruch stand zu seiner Kernaussage.

Mit einem ausufernden Netz an Sicherheitsvorkehrungen und Überwachungsmaßnahmen setzte sich Böll in seinem Roman „Fürsorgliche Belagerung“ (1979) auseinander. Damals bot die um sich greifende Hysterie angesichts des Terrors der linksextremistischen Roten Armee Fraktion (RAF) Anlass für diesen Stoff. Ein beklemmendes, hochaktuelles Buch, das die versuchte Zerstörung einer Familie durch „staatliche Sicherheits- und Überwachungsmaßnahmen“ beschreibt.

Der Autor wusste, wovon er sprach: Er wurde von der Polizei observiert, musste Hausdurchsuchungen erdulden und war einer Verleumdungskampagne ausgesetzt. Böll, der sich von den Methoden und Zielen des deutschen Linksterrorismus immer distanziert hatte, wurde selbst im Bundestag zum ideologischen Helfershelfer der Terroristen erklärt. Es gab Menschen, die „Kopf ab!“ für ihn forderten. Nur Willy Brandt und einige wenige Mitglieder der SPD und der FDP verteidigten ihn.

Da die Behörden es nicht für ausgeschlossen hielten, dass gesuchte Terroristen bei ihm Unterschlupf finden könnten, wurde bei ihm am 1. Juni 1972 in Langenbroich eine Hausdurchsuchung vorgenommen. Die genauen Umstände dieser Aktion, insbesondere die Zahl der eingesetzten Beamten, sind umstritten. Während Böll selbst von bis zu 20 Polizisten ausging, behauptete der damalige Einsatzleiter Helmut Conrads, nur er selbst und ein Kollege vom Landeskriminalamt hätten Böll einen Besuch abgestattet. Der Philosoph Robert Spaemann, der sich an diesem Tag im Haus von Böll aufhielt, bestätigte jedoch, mehrere schwer bewaffnete Polizisten gesehen zu haben.

Der 1971 erschienene Roman „Gruppenbild mit Dame“ ist nicht nur Bölls umfangreichster, sondern nach Meinung vieler Kritiker auch sein bedeutendster Roman. Nach Bölls eigenen Worten war er eine „Zusammenfassung und Weiterentwicklung“ seiner früheren Arbeiten. Er ergreift in diesem Werk Partei für die „Abfälligen“ (den „Abfall“) der Gesellschaft, für Außenseiter und Leistungsverweigerer. Der Roman wurde zum Bestseller und trug maßgeblich zur Verleihung des Nobelpreises für Literatur an Böll im Dezember 1972 bei.

Bölls letztes Werk „Frauen vor Flusslandschaft, ein Bonn-Roman, erschien im Jahr 1985. Heute ist dieser Roman, wie auch „Das Treibhaus“ von Wolfgang Koeppen, ein – keineswegs schmeichelhaftes – literarisches Denkmal für Bonn alss Regierungssitz der Bundesrepublik.

Böll beschäftigte sich auch mit Konflikten in Südamerika. Er versuchte zum Beispiel mit einer bolivianischen Frauendelegation in Bolivien zu reden, um die Probleme vor Ort zu lösen. Hier kann man sich natürlich schon fragen, ob er naiv war und ob die innerdeutschen Probleme – wie seine Stellungnahmen zur NS-Aufarbeitung und zum Zustand der Kirche in Deutschland – oder die Probleme zwischen Ost und West, bei denen er immer wieder vermittelnd auftrat, nicht als Handlungsfelder ausgereicht hätten. Von Südamerika wird er nicht viel verstanden haben, vielleicht hat er sich hier übernommen. In Ecuador erkrankte Heinrich Böll infolge seines starken Tabakkonsums an einem Gefäßleiden im rechten Bein, weswegen er sich dort und später auch in Deutschland Operationen unterziehen musste.

Es gab aber nicht nur von konservativer Seite Kritik am „politischen“ Böll, sondern auch Kritik aus dem linken bis linksradikalen Lager, das, wie schon erwähnt, sein Primat der Literatur als romantisch und unzeitgemäß empfand. Böll war nie einem Lager zuzuordnen, was nach meinem Empfinden für ihn spricht: Er war ein unabhängiger Denker, jenseits von der Parteienlandschaft und jenseits von ideologisierten Gruppen. Solch eine unbestechliche unvoreingenommene Haltung wünscht man sich heute auch bei einem engagierten Intellektuellen.

Ferner gab es Kritik an Böll auf der ästhetischen Ebene von Literaturwissenschaftlern und Kollegen. Diese Kritik hält bis heute an: So wurde ihm von dem Schriftstellerkollegen Hermann Kesten der Vorwurf gemacht, er könne „nicht schreiben, nur erzählen“. Von vielen Seiten wurde geäußert, sein Stil sei zu wenig experimentell, nicht innovativ. Diese Kritik fand Widerhall in den anti-epischen Tendenzen der Literaturkritik sowohl in den achtziger Jahren wie auch in jüngster Zeit nach dem Abflauen des „Neuen Erzählens“. Es ist offenbar ein unausrottbares Vorurteil in der deutschsprachigen Literaturszene, dass etwas, das sich gut liest, keinen Wert haben kann. „Am meisten bewundere ich die Einfachheit, Klarheit, Genauigkeit seiner Sprache. Er macht keine Sprüche und er versucht niemals zu bluffen“, schrieb Carl Zuckmayer zutreffend über Böll.

Böll hat sich immer als volksnahen und antielitären Autor gesehen – er war kein „Poeta doctus“. Er wollte nicht wie Stefan George schreiben oder auftreten – aristokratisch-gewählt, aus der Ferne und von oben herab.. Man kritisierte Böll dafür, „Normaleleuteschreiberei“ (Ernst Herhaus) zu Papier zu bringen, nur weil er realistisch über Heizer, Putzfrauen, Kriegsheimkehrer, Hausfrauen, Angestellte schrieb. Der Romanarchitekt Böll ist dabei jedoch oft unterschätzt worden: Bücher wie „Gruppenbild mit Dame“ oder „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ sind komplexe Montagen aus dokumentarischem und fiktionalem Material und keineswegs konventionell konstruiert. In dem schon erwähnten Roman „Fürsorgliche Belagerung“ (1979) wird kapitelweise aus der Perspektive verschiedener Figuren berichtet – um ein Beispiel für antilineare Handlungsentfaltung zu geben. Der Roman verfügt über eine komplexe Erzählstruktur, die den auktorialen Erzähler, den „omnipotenten“ Autor destruiert. Dies sind für mich Beispiele für ein raffiniertes Erzählen.

Ferner ist Böll „Zeitverhaftetheit“ vorgeworfen worden – ein wenig nachvollziehbarer Punkt: Wenn Literatur wie ein Fernrohr in die Vergangenheit reicht und die Gegenwärtigen beredt über das Gewesene informiert, kann ich darin keinen Mangel sehen. Gute Bücher liefern immer eine präzise Analyse ihrer Epoche, betreiben sinnliche Geschichtsschreibung – im Vergleich zur scheinbar objektiven von Historikern. Für Angehörige einer jüngeren Generation sind Bölls Erzählungen und Romane ein unerschöpflicher Fundus an Alltagsgeschichten aus einer Zeit, die auch unser Leben maßgeblich bestimmt hat. Wenn man Böll liest, meint man diese Zeit spüren, hören und schmecken zu können. Der Vorwurf der „Normaleleuteschreiberei“ und des „Waschküchenmiefs“ der unmittelbaren Nachkriegszeit erscheint heute wie gestern überheblich. Manch Leser verschlingt Bölls Kurzgeschichten, Erzählungen und Romane gerade um des Waschküchenmiefs willen! Gerade in Zeiten wie heute, in denen in den USA, aber auch in Deutschland von einer wachsenden Kluft zwischen der sog. „geistigen Elite“ und den „Normalbürgern“ gesprochen wird, erscheint ein Schriftsteller interessant, der sich so dezidiert mit Menschen verschiedener Milieus auseinandergesetzt hat. Denn von der Waschküche findet Böll spielend leicht zurück zur großen Bühne der Politik bzw. er weiß die Sphären zu verknüpfen: Kaum ein Autor informiert so gut wie Böll über die bundesrepublikanische Nachkriegswirklichkeit, über den Ausgang und Ausklang des Kriegs. Typisch für ihn ist, eben nicht die großen Täter oder Helden zu studieren, sondern das Leben „einfacher Leute“ unter die Lupe zu nehmen. Bölls ergreifende, farbige Romane über Familien, durch die sich der Graben zwischen Nazibegeisterten und Nazikritikern zieht, lesen sich kenntnisreicher und besser als viele der Bücher, die in den vergangenen Dekaden dazu veröffentlicht wurden. Seine Figuren – ob es sich um Haushälterinnen, Gelegenheitsclowns, Architekten oder Regionalpolitiker handelt – folgen einem auf Schritt und Tritt; es ist unmöglich, sie zu vergessen.

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