Was Europa derzeit fehlt, ist ein neuer Identitätsbegriff, der Migranten stärker miteinschließt. Bislang ist Europäische Identität in erster Linie über Abgrenzung konstruiert worden: wir sind nicht wie die Amerikaner, die Russen oder die Afrikaner. Statt sich affirmativ zu einer Identität zu bekennen, wurde sich nur aversiv gegen andere Nationen, Kulturen und zum Teil auch pauschal gegen nicht-christliche Religionen gerichtet. In diesem Zusammenhang muss an die peinliche Leitkultur-Debatte erinnert werden. Diese Debatte hat es Migranten nicht leichter gemacht, sich diesem merkwürdigen, sich ständig selbst spiegelnden Goethe-und-Dieter-Bohlen-Land in der Mitte Europas zugehörig zu fühlen. Dabei wurden Trennlinien zwischen Christen und Muslimen gezogen, ungeachtet der Tatsache, dass sich in Deutschland mittlerweile fast die Hälfte der Menschen keiner der beiden großen christlichen Kirchen angehört. In Berlin leben mehr Muslime als Katholiken. Nicht nur dumpfe Ablehnung und Unkenntnis, sondern auch große Unsicherheit kommt hier zum Vorschein: Die Aussage „Zuwanderer, die hier leben, bedrohen meine persönliche Lebensweise und meine Werte“ stößt bei vielen Europäern auf Zustimmung, wie eine kürzlich veröffentlichte Studie („Die Abwertung der Anderen“) der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) belegt. Das Ergebnis der FES-Studie: Die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Vorurteile gegenüber als „fremd“ oder „anders“ Empfundenen, ist in Europa weit verbreitet. In den Niederlanden stießen die abwertenden Aussagen auf die niedrigsten Zustimmungswerte, in Polen und Ungarn auf die höchsten.
Für Fremdenfeindlichkeit, Islamfeindlichkeit und Rassismus ermittelt die FES-Studie nur geringfügige Unterschiede zwischen den Ländern: „Rund die Hälfte aller europäischen Befragten ist der Ansicht, es gebe zu viele Zuwanderer in ihrem Land“, heißt es in der Studie.
Dass Deutschland ein Einwanderungsland und Europa ein Einwanderungskontinent geworden ist, ist bei vielen Bürgern – und auch Politikern – nicht angekommen. Dabei ist die Bundesrepublik aufgestiegen in die erste Liga der Einwanderungsländer, neben den USA, Kanada und Australien. Einer der wenigen Politiker, die sich klar positiv über die Zuwanderung äußerten, ist der deutsche Außenminister. Denn Immigration ist neben dem kulturellen Gewinn für Deutschland ökonomisch vollkommen unvermeidlich. So konstatierte der Wirtschaftsressort-Chef der deutschen „WELT“-Verlagsgruppe, Olaf Gersemann, dass Deutschland pro Jahr 400.000 Zuwanderer aufnehmen müsse, um seine Bevölkerungszahl stabil halten zu können.
Viele Menschen beklagen, dass die Binnenkräfte, die Europa zusammenhalten, vor allem ökonomischer Natur seien, haben aber, nach ihrem Identitätsverständnis von Europa befragt, selber wenig zu bieten. Dass die Europäer sich schwer damit tun, eine europäische Identität festzulegen, kann nicht verwundern. Zu viele Einflüsse haben historisch den Kontinent geprägt. Mit ausschließenden Begriffen trifft man nur geschichtliche Falschaussagen.
Berufen müsste sich Europa jetzt auf seinen Platz in der Welt als Drehkreuz zwischen Ost und West. Europa war schon immer eine Region des regen Handels, des Austausches und der – auch kriegerischen – Auseinandersetzungen. Es gibt keine Gegend in der Welt, in der so viele von der Fläche her kleine Länder eng beieinander liegen, es gibt keine Region, die durch ihre Geographie so kleinteilig und ineinandergreifend ist. Europa kann sich nur als regen Marktplatz der Welt, als Vielvölkerstaat mit zahllosen kulturellen, linguistischen und ökonomischen Verbindungen zur außereuropäischen Welt verstehen. Der Europäer ist, wenn er diese Offenheit bei sich selbst zulässt, dann qua Geburt ein Multikulturalist. Es war der kürzlich verstorbene deutsche Soziologe Ulrich Beck, der als einer der ersten den Europäer als Kosmopolit gedacht hat. Doch für Beck bedeutete Europa nicht das Ende der alten Nationalstaaten. Das neue Europa könne vielmehr das alte in sich bergen und zugleich sanft verändern.
Das Eine – die transnationale Identität – schließt das Andere – die Herkunftsidentität – nicht aus. Und hier knüpft erwähnte große Angst an. In vielen Regionen Europas wird Angst geschürt vor einem transnationalen Identitätsbegriff, erst recht einem, der außereuropäische Fremde miteinschließt. Es scheint schwer vorstellbar zu sein, dass die Erweiterung eines Identitätsbegriffs nicht gleichzeitig einem Verlust an anderer Stelle gleichkommt, sondern einen Mehrwert bedeutet. Was als Aufgabe vor uns liegt, könnte die Etablierung eines facettenreichen, multidimensionalen Identitätsbegriffs sein. Einer Identität, die sich gleichwertig aus einem nahen Herkunftsbereich („Berlinerin“) speist, einer soziokulturellen und religiösen Zugehörigkeit („atheistische Schriftstellerin“) und einem geographisch weitergefassten Bereich („Zugehörigkeit zu einem sich als heterogenes Staatengebilde verstehenden Europa“). Was bislang eher als exkludierend empfunden wurde, könnte in Zukunft auch integrierend verstanden werden: Es könnte auch für Europäische Bürger dazugehören zu sagen: Ich stamme aus einem Kontinent, in dem ich nicht nur jeden Tag Deutsch höre, nicht nur Nachbarn mit meiner Hautfarbe habe. Zu meiner Identität gehört es dazu, mehrere Sprachen zu sprechen und viele Sprachen ein wenig zu verstehen. Ich lebe in einem Kontinent, der sich dem keineswegs toten, sondern von 500 Millionen Menschen täglich gelebten Multikulturalismus verschrieben hat.
© Tanja Dückers, Berlin, im Januar 2015