veröffentlicht in Süddeutsche Zeitung, Januar 2015
Angela Merkels mantrahaft wiederholtes „Uns geht’s gut“ provoziert eine kritische Überprüfung. Mehrere Autoren haben in diesem Herbst Bücher publiziert, die einen Abgesang auf Deutschland als einer führenden Wirtschaftsnation anstimmen. Darunter auch Olaf Gersemann mit „Die Deutschland-Blase“ und Ulrich Horstmann („Zurück zur Sozialen Marktwirtschaft!“). Die derzeit kursierenden gedämpften Prognosen für die Konjunkturentwicklung haben beide Autoren treffend vorausgesagt.
So sehr sich die ökonomischen Befunde in Bezug auf die nahe Zukunft Deutschlands gleichen, so unterschiedlich fallen jedoch die Analysen und die Lösungsvorschläge aus. Ulrich Horstmann, Autor einer Reihe von Fachbüchern, präsentiert sich als strammer Ordoliberalist, der Walter Eucken so oft zitiert, dass man sich fragt, ob er vor Erscheinen des Buchs einen profitablen Deal mit dem Jenseits abgeschlossen hat. Eucken war geistiger Mentor von Ludwig Erhard, der in „Zurück zur Sozialen Marktwirtschaft“ auch in einem Fort aus seiner Grabesruhe gerissen wird. Bei aller Sympathie für die Verve, mit der Horstmann gegen den Aufstieg der Investmentbanken und gegen ihre staatliche Subventionierung („too big to fail“) wettert, so überrascht doch sein ungebrochener Glaube an ein wirtschaftspolitisches Modell, das auf die späten vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts rekurriert.
Der Ordoliberalismus war damals nicht zuletzt als Antwort auf den Nationalsozialismus zu verstehen. Ohne die tatkräftige Unterstützung verschiedener Großunternehmen hätte das Dritte Reich weder wirtschaftlich noch militärisch eine derartige – zerstörerische – Schlagkraft gehabt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sollten solche Kartellbildungen und Monopolstellungen dauerhaft verhindert werden.
Doch die heutige Zeit ist wirtschaftspolitisch nicht zu vergleichen mit der „Stunde Null“ nach dem Krieg. In dieser historisch einmaligen Situation konnte der Staat in einen vakanten, neu zu strukturierenden Raum lenkend tätig werden. Bürgerlich-idealistische Vorstellungen wie sie der Ordoliberalismus repräsentiert – man müsse nur die richtigen Gesetze erlassen, dann entfalte sich ihnen gemäß ein fairer, ausgewogener wirtschaftlicher Wettbewerb – waren verbreitet.
Doch seit den Zeiten Ludwig Erhards hat sich die Welt verändert, Finanzdienstleister erlebten nicht nur aufgrund moralischer Defizite – so klingt es bei Horstmann – einen kometenhaften Aufstieg, sondern auch aufgrund der nachlassenden Bedeutung der vormals dominierenden Industrieproduktion wie Kohle und Stahl. Bei aller berechtigter Kritik, die Horstmann am „Finanzkapitalismus“ tätigt, so überrascht doch seine ungebremste Nostalgie. Sie drückt sich auch in Verflachungsformeln wie „Der Ehrliche ist der Dumme“ oder dem Vergleich zwischen Finanzdienstleistern und „Hütchenspielern“ aus.
Vor allem aber desavouiert sich Horstmann schon mit seinem ersten Satz: „Deutschland hätte eine ‚große Schweiz’ in Europa bleiben können.“ Für Horstmann ist die EU ein Kernproblem, weil sie die starke ordnende Hand angeblich schwächt. Der Ordoliberalist hat keinerlei Verständnis für die vielen nicht-ökonomischen Gründe, die für die EU und später für die Osterweiterung gesprochen haben. Horstmann gibt den Lesern zwar Tipps, wie sie gegenwärtig ihr Geld anlegen sollen, äußert sich über Immobilien- und Edelmetallerwerb, ist aber in der postbipolaren Welt nach dem Mauerfall mit ihren vielen überstaatlichen Akteuren, die er nur blind verdammt, nicht angekommen.
Da wirkt Olaf Gersemann wacher und gegenwartsbezogener. Mit weniger moralischen Wertungen und geringerem Pathos skizziert der Ressortleiter Wirtschaft und Finanzen bei der WELT-Gruppe die sich verdüsternden wirtschaftlichen Rahmendaten für Deutschland. So ist die gefeierte deutsche Volkswirtschaft eine der wachstumsschwächsten der Welt, wo man sich seit Jahren mit Millionen Arbeitslosen arrangiert. Ein düsteres Bild zeichnet der Autor vor allem hinsichtlich der demographischen Entwicklung. Die jetzt einsetzende Verrentung der geburtenstarken Jahrgänge setzt das Land einer radikalen Schrumpfkur aus. Fehlender Nachwuchs, Überalterung und Abwanderung von Fachkräften könnten, so Gersemann, schneller als erwartet aus dem einstigen „Hochleistungssportler“ Deutschland einen „Vollinvaliden“ machen.
Sympathisch an Gersemanns Buch ist auch die Warnung vor deutscher Selbstüberschätzung: Skeptisch zitiert er den Stern-Journalisten Hans-Ulrich Tröge, der nach dem Finalsieg bei der WM konstatierte, die Deutschen seien „in der glücklichsten Phase ihrer Geschichte“ angelangt, mit einer Wirtschaft, die „unverwüstlich, wandlungsfähig, weltweit einmalig“ sei. Er zitiert Schäuble, der angesichts der horrenden Kosten des Rentenpakets einfach nur sagte: „Wir können uns das leisten“. Dem stellt Gersemann gegenüber, dass sich weite Teile der deutschen Industrie im Rückbau-Modus befinden und die Wachstumsimpulse vor allem aus dem Exportgeschäft kommen: Das macht aber sehr abhängig von anderen Akteuren.
Olaf Gersemann versucht auch, praktische Lösungsvorschläge für den sich ankündigenden wirtschaftlichen Abstieg zu präsentieren. Anders als Horstmann sieht er die EU als unabdingbar an. Statt sich die Schweizer Alpen rund um die deutschen Landen zu wünschen spricht er sich für mehr Transnationalität aus und plädiert mit der „Blue Card“ für eine stärkere Immigration: „Alle Akademiker, ob aus der EU oder von außerhalb, bekommen, wenn sie in Deutschland erfolgreich ein Studium absolviert haben, eine unbegrenzte Aufenthalts– und Arbeitserlaubnis.“
Andere Ideen zielen auf eine noch weitere wirtschaftliche Liberalisierung: Wo Horstmann provinziell denkt, da wird Gersemann bisweilen zum Thatcherist und empfiehlt niedrigere Einkommenssteuersätze oder weniger Kündigungsschutz. Als würden nicht schon genug junge Paare aufs Kinderkriegen verzichten oder dieses aufschieben, weil sie zwischen ständig geforderter beruflicher Mobilität und Flexibilät kein Zuhause mehr aufbauen können. Hier hätte Herrn Gersemann eine Prise Ordoliberalismus gut gestanden.
Olaf Gersemann: „Die Deutschland-Blase. Das letzte Hurra einer großen Wirtschaftsnation“, DVA, München 2014, 320 Seiten
Ulrich Horstmann: „Zurück zur Sozialen Marktwirtschaft! Warum sich Ludwig Erhard im Grabe umdrehen würde“, FinanzBuch Verlag, München 2014, 256 Seiten
© Tanja Dückers, Berlin, Januar 2015