ZEIT Online, 11. Februar 2009
Wir glauben nur zu gerne an die Allmacht der Hirnforschung und Genetik – weil sie uns von der Verantwortung für das eigene Handeln entlastet
Sind Sie heute gut gelaunt aufgewacht? Haben Sie sich an den ersten Frühlingstagen erfreut? Hat Ihnen der Kaffee geschmeckt?
Was auch immer Sie antworten mögen: Fühlen Sie sich nicht verantwortlich für Ihre Fähigkeit, aus einem Tag das Beste zu machen – Sie sind einfach nur Opfer Ihrer Hirnbotenstoffe. So wie im 19. Jahrhundert die Schädelvermessung und später die Erforschung der Hysterie für unanfechtbare Disziplinen gehalten wurden, so sind es nun die Hirnforschung und die Genetik. Beide Wissenschaften mögen manch interessantes, unter Umständen sogar richtiges Ergebnis zutage fördern – der derzeitige Kult um sie muss dennoch äußerst skeptisch betrachtet werden. Und wenn auch noch Leute wie die ehemalige Viva-Moderatorin Charlotte Roche in einem Interview einräumen, dass sie viel von Biologie halten, muss man erst recht sehr skeptisch werden.
Gerade hat eine neue „Glücksstudie“ von Wissenschaftlern der Universität Edinburgh von sich reden gemacht. Die Wissenschaftler behaupten, in einer Untersuchung von 973 Zwillingspaaren herausgefunden zu haben, dass Gene einen beträchtlichen Einfluss darauf haben, ob Menschen in ihrem Leben glücklich sind.
Das Problem bei solcherart „Erkenntnissen“ ist, dass sie nicht mit sozialwissenschaftlichen Thesen amalgamiert werden. Sind Thesen wie „Kinder, die geschlagen werden, werden oft selbst zu Schlägern“ plötzlich obsolet? Allein ein Satz wie „Anhand eines Fragebogens erfassten die Wissenschaftler die Persönlichkeitsstruktur von 973 Zwillingspaaren“ über die Glücksstudie aus Edinburgh muss Zweifel aufkommen lassen. Wer selber zum Spaß mal einen Psychotest gemacht hat, weiß, dass die eigene Einschätzung nicht unbedingt die Beste ist – und dass man, abhängig von Tagesform und Lebenssituation, sehr unterschiedliche Antworten geben kann.
Aber in Edinburgh geht man zweifelsfrei davon aus, die Persönlichkeitsstruktur von 1946 verschiedenen Menschen „erfasst“ zu haben. Was überhaupt „Glück“ ist, stand natürlich nicht zur Debatte. Wie man etwas, das man nicht einmal konsensuell definieren kann, messen will, sei dahingestellt.
Es mutet seltsam an, dass wir aus den Relativierungen der Heilslehren früherer Zeiten nichts gelernt haben. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird man in 30 oder 50 Jahren über unseren demütigen Glauben an die Ergebnisse der Hirnforschung und der Genetik lachen. Doch wir laden die neuen Lehren vom Leben und Sein mit quasireligiöser Bedeutung auf.
Focus , ein Magazin, das nicht mit schrillen Titeln geizt, bellte die Leser im vergangenen Herbst an: „Tatort Gehirn: Warum Menschen zu Verbrechern werden“. Geschrieben von niemand Geringerem als Helmut Markwort, dem Chefredakteur. Schön, dass jemand so genau Bescheid weiß! Dann können wir ja uns alle magnetresonanztechnisch durchchecken und gegebenenfalls vorsorglich einbuchten lassen.
Selbstkontrolle durch Dinge wie Anstand und Humanismus scheint keinerlei Relevanz mehr zu besitzen. Alles alter Kaffee. Christus und Konfuzius, Mohammed und Buddha, Franz von Assisi, Martin Luther, Mahatma Gandhi – sie alle haben sich getäuscht, Herr Markwort weiß es besser: Unser Aggressionspotenzial ist eine Frage von Schaltkreisen im Gehirn. Und der US-amerikanische Neuropsychologe Adrian Raine souffliert, Strafgefangene (offenbar auch die, die wegen dreimal Schwarzfahren im Knast gelandet sind) hätten überdurchschnittlich häufig ein verkleinertes „Moralzentrum“. Warum dann überhaupt noch die neue, alte „Wertediskussion“?
Der Dauerhit Hirnforschung nervt aber nicht nur, sondern ist auch gefährlich. Denn die Botschaft ist, dass niemand mehr verantwortlich für sein Verhalten und alles determiniert ist. Das „Tatort Gehirn“ und das „Moralzentrum“ führen uns direkt ins Mittelalter zurück, mit dem Unterschied, dass nicht mehr an einen alten Mann mit weißem Bart geglaubt wird, sondern an einen jungen Mann in weißem Kittel.
An der monotheistischen Inbrunst hat sich jedoch nicht viel geändert. Die Modewelle Biologismus ist in ihrer derzeitigen medialen Omnipräsenz nichts anderes als ein Versuch, der überkomplexen Wirklichkeit mit einem einfachen Ursache-Wirkungszusammenhang zu entkommen. Wir verstehen unsere eigene Welt nicht mehr und wünschen uns nichts sehnlicher, als Verantwortung abzugeben. Lieber sprechen wir unschuldig von unseren Genen und Hirnschaltkreisen als von bewussten Entscheidungen, gar Fehlern oder Versagen.
Aber nicht nur Medienmogule und TV-Sternchen schwimmen auf der Welle mit: Zu ihrem 50. Geburtstag lud Angela Merkel den Hirnforscher Wolf Singer ein und bat ihn, über den neuesten Stand der Wissenschaft Auskunft zu geben. Andere Staatsoberhäupter würden auf einem solchen Geburtstagsfest Schauspieler auftreten oder Gedichte verlesen lassen – Angela Merkel meinte, die Feier mit ein paar Daten aus der Hirnforschung aufzupeppen. Herr Singer hatte dann auch richtig Partytaugliches im Gepäck: „Der Mensch verfügt nicht über einen freien Willen. Er wird in Wirklichkeit von Neuronen gesteuert.“ Aha! Aber der Höhepunkt, mit dem Herr Singer sogar hinter das Alte Testament zurückfällt, kam noch: „Der Mensch ist in seiner Entscheidung zwischen Gut und Böse festgelegt.“
Das Hamburger Satiriker-Duo Ebermann & Trampert bringt es schön auf den Punkt: „Deutschlands Elite war begeistert, als sie hörte, dass nicht Deutsche, sondern Neuronen den Völkermord an den Juden verübt hätten. Warum die Neuronen damals gerade so und nicht anders entschieden haben, weiß der Professor heute noch nicht.“
Vermutlich hatten Hunderttausende Deutsche vor mehr als 60 Jahren alle einen Schaden im limbischen System.