ZEIT Online, 7. März 2008
Wie mit Hilfe von Filmen wie dem ZDF-Zweiteiler „Die Gustloff“ aus Nazi-Tätern und -Unterstützern wieder reine „Zeitzeugen“ gemacht werden. Ein medialer Geschichtsrevisionismus der neuen Art
Wieder einmal konnten die Deutschen ein NS-Großspektakel genüsslich im Sessel goutieren: Der TV-Zweiteiler Die Gustloff malte in allen grauenvollen Details den Untergang des ehemaligen KdF-Schiffs und NS-Prestigeobjekts am 30. Januar 1945 mit über 9000 Toten aus – die größte Schiffskatastrophe seit Menschengedenken.
Schon über den Film Der Untergang von 2004, der die Geschehnisse im Führerbunker in den letzten Tagen der NS-Diktatur wiedergibt, sagte der Essener Sozialwissenschaftler Harald Welzer: „Dieser Film ist so schlecht wie er ideologisch ist, indem er vorgibt, authentisch und bewertungsfrei erzählen zu können, was ohne Kontextualisierung und Wertung gar nicht zu erzählen ist.“
Die Gustloff vermittelt den Eindruck, dass auf dem Schiff nur kriegsmüde Unschuldslämmer hockten. Unter den 9000 Opfern tappen gerade mal zwei, drei perfide Nazis wie der „Ortsgruppenleiter Escher“ herum, die wie Witzfiguren wirken. Keiner der Sympathieträger lässt eine Spur von nationalsozialistischem Gedankengut erahnen, welches doch bis in die feinsten Verzweigungen der Gesellschaft gedrungen war, oder spricht eine Sprache, die vom Duktus der damaligen Zeit geprägt ist.
Die fast dokumentarische Detailtreue von Filmen wie Der Untergang oder Die Gustloff verschleiert deren fiktionalen Charakter. Die fiktionalen Elemente werden als angeblicher Teil der damaligen Wirklichkeit präsentiert. Entsprechend bekommt man den Eindruck, dass die Gustloff so etwas wie die „deutsche Titanic“ ( Spiegel ) gewesen sei.
Davon kann jedoch keine Rede sein: Die Titanic sank in Friedenszeiten. Militärhistoriker wie der Brite Richard Overy oder der Gustloff-Experte und -Überlebende Heinz Schön haben eingeräumt, dass die Versenkung der Gustloff durch ein russisches U-Boot zwar brutal war, aber nicht als Kriegsverbrechen zu verurteilen ist. Denn die Gustloff trug Tarnanstrich, fuhr abgeblendet in Kriegsgewässern und war somit visuell als Militär- und Transportschiff anzusehen, ferner hatte sie Flaks an Deck. Darüber hinaus waren – neben rund 10.000 Flüchtlingen – 918 Offiziere und Mannschaften an Bord, also keineswegs nur Zivilisten.
Zudem dürfte der Transport von schwerstverwundeten Soldaten auf der Gustloff die Russen nicht zur Nachsicht bewogen haben: Die erschöpften oder verwundeten Soldaten der Roten Armee wurden auf den langen Märschen in die deutsche Kriegsgefangenschaft von den Wehrmachtssoldaten einfach erschossen; ihre Leichen säumten die Marschroute.
Es ist kein Zufall, dass in den letzten Jahren Filme wie Der Untergang und Die Gustloff TV-Serien wie Die große Flucht gedreht wurden, die sich mit den deutschen Vertriebenen befassten. Seit Martin Walser in seiner Paulskirchenrede für sich die Entbindung vom „Erinnerungsdienst“ einforderte, herrscht eine Stimmung, die man mit dem kleinen Wort „genug“ beschreiben könnte: „genug gebüßt“, „genug über den Holocaust geredet“.
Die derzeitige Erinnerungskultur ist unübersehbar von dem Bedürfnis geprägt, endlich auch als Nation der Weltkriegsgeschädigten anerkannt zu werden. Der Anspruch, jetzt „einen anderen Umgang“ mit der Vergangenheit öffentlich einläuten zu können, wird von Politikern wie vermeintlichen Vordenkern der Nation gebetsmühlenhaft wiederholt. Die großen Fernsehsender liefern dazu die entsprechende Knoppaganda, indem sie suggerieren, dass das deutsche Volk – abgesehen von den altbekannten Obernazis – nur aus Verführten, Betrogenen, Ausgebombten, Vergewaltigten und sadistisch Ermordeten bestanden hätte.
Der neue Opferdiskus irritiert umso mehr, als ja immerhin der Versuch eines Geschichtsrevisionismus, wie ihn vor allem Ernst Nolte im Historikerstreit in den achtziger Jahren zu initiieren versucht hat, gescheitert ist. Vermutlich hat man es jedoch mit einer Art Neuauflage unter verändertem Vorzeichen zu tun. Diesmal geht es weniger darum, den Bolschewismus für Hitler verantwortlich zu machen, als die deutsche Täter-Zeitzeugen-Erlebnisgeneration zu rehabilitieren. (Übrigens: Der Ausdruck „Tätergeneration“ ist im Jahre 2008 aus der Mode gekommen. Man wagt zwar noch nicht, von „Opfergeneration“ zu sprechen, hat sich aber im stillen Konsens auf „Zeitzeugengeneration“ geeinigt. In letzter Zeit kann man auch den an Zynismus nicht zu überbietenden Ausdruck „Erlebnisgeneration“ hören.)
Jenseits der geigenklanguntermalten TV-Bilder wandte sich die NS-Forschung jedoch in den vergangenen Jahren verstärkt dem Faktum zu, dass der NS-Staat sich nicht nur auf Unterdrückung und Terror gestützt hat, sondern auch auf einen breiten volksgemeinschaftlichen Konsens. Statt den Blick lediglich auf Hitler und seinen innersten Führungszirkel zu richten wie etwa noch bei Joachim Fest, wurde die Beteiligung sogenannter normaler Bürger an der kumulativen Radikalisierung des Regimes untersucht. Götz Alys Hitlers Volksstaat (2005) und Harald Welzers im gleichen Jahr erschienenes Buch Täter – wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden sind Beispiele hierfür.
Schon 1993 hatte Christopher R. Browning in seiner Studie Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibatallion 101 und die ‚Endlösung’ der Juden in Polen den Blick weg von den Hauptverantwortlichen gelenkt. Hannes Heer, der Initiator der ersten Wehrmachtsausstellung, hat 2004 eine Analyse über die Beteiligung der Wehrmacht an Kriegsverbrechen vorgelegt, die ebenfalls dem neuen „Opferdiskurs“ entgegensteht. Hannes Heer setzt sich mit der „Absenz der Täter“ auseinander und rekurriert auf ihre Personalisierung nach dem „Hitler-war’s“-Prinzip: Die zahllosen „kleinen“ Unterstützer des Regimes, ohne die kein Zug nach Auschwitz gefahren, kein Nachbar verraten worden, kein Deserteur erschossen, keine Sophie Scholl verhaftet und kein jüdischer Schüler von der Schule geflogen wäre, waren in den großformatigen historischen Analysen zuvor wenig vorgekommen.
Der Film Die Gustloff singularisiert den Nationalsozialismus wieder und fällt damit weit hinter den Forschungsstand der letzten 15 Jahre zurück. Neu ist das Thema übrigens nicht. Schon 1959 wurde ein Film über den Untergang der Wilhelm Gustloff gedreht: Nacht fiel über Gotenhafen (Regie: Franz Wisbar). Auch der im letzten Jahr verstorbene Walter Kempowski ( Echolot ) hat sich intensiv mit dem Thema „Flucht und Vertreibung“ auseinandergesetzt – lange bevor es massenmedial verwurstet wurde.
Zu Recht kritisiert Harald Welzer, dass in Filmen wie Der Untergang stets das Ende des Nationalsozialismus – und nicht etwa dessen Beginn – als Tragödie inszeniert wird. Die gleiche Kritik lässt sich auf Die Gustloff anwenden, deren Untergang Regisseur Joseph Vilsmaier als Analogie zum Untergang des Dritten Reichs verstanden wissen will.
Ein Film über den Luxusriesen Gustloff zu sonnigen KdF-Zeiten wäre interessanter gewesen. Ähnlich wie im Seebad Prora auf Rügen schallten ständig Hitlerreden durch die langen Gänge, denen sich niemand entziehen konnte. Auf dem Schiff saßen Nazi-Beobachter, die jeden, der bei solchen Führer-Ansprachen nicht augenblicklich ehrfürchtig verstummte und strammstand, namentlich notierten. Diktatorische Kontrolle auch noch im Urlaub, auf Schritt und Tritt. So fing es an mit der Gustloff.
Wer einen guten Film über den Nationalsozialismus sehen möchte, dem sei Ein besonderer Tag (1977, Regie: Ettore Scola) mit Sophia Loren und Marcello Mastroianni empfohlen: Hitler im Jubeljahr 1938 auf Staatsbesuch bei Mussolini, alle stehen am Straßenrand und winken. Nur eine melancholische Hausfrau und ein Homosexueller wollen nicht so recht mitfeiern …