veröffentlicht in Jungle World, November 2002
Vorbei die Zeiten, in denen Deutsche sich noch bemühen mussten, im Geschäft und auf der Straße die wenigen Brocken Tschechisch anzuwenden, die sie ihrem Baedecker auf der letzen Raststätte entnahmen. Seitdem Tschechien auf der Beitrittsliste der EU für das Jahr 2004 steht, scheinen sich seine Bewohner unterwürfig gegenüber den Königen der EU zu gebärden. Niemand wünscht sich den Eisernen Vorhang zurück, aber gewisse Anbiederungsgesten waren einfach überflüssig. Auch die von rückwärts gewandten deutschen Politikern immer wieder in die Öffentlichkeit gebrachte Diskussion um die Benes-Dekrete hat wohl ihre Spuren hinterlassen.
Nun setzen sich junge tschechische Journalisten mit ihrer »Schuld« gegenüber den Deutschen auseinander, Grass‘ Novelle »Im Krebsgang«, die so tut, als sei der Untergang des Flüchtlings- und Soldatenschiffs »Wilhelm Gustloff« mitten im Krieg das gleiche wie der Untergang der »Titanic«, wurde »mit großem Interesse« aufgenommen. Offenbar, muss man klamm konstatieren, ist es führenden deutschen Politikern und Medien gelungen, in kleinen, auf ihre Integration ins westliche Europa angewiesenen Ländern wie Tschechien die Vergangenheit anders erscheinen zu lassen.
Natürlich spricht nicht jeder Kartoffelhändler und jede Fahrkartenabreißerin deutsch, aber es ist sehr erstaunlich, dass nicht nur alte Leute, sondern gerade wieder junge lächelnd auf deutsch zu antworten pflegen, wo vor wenigen Jahren noch die trotzig-schnodderig-osteuropäische Leck-mich-am-Arsch-Haltung dominierte.
© Tanja Dückers, November 2002