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Die "Utopia" sinktBeobachtungen aus der amerikanischen Provinz zum 11. Septemberveröffentlicht in "Jungle World", 2001Vom Wind gebauschte Stars-and-Stripes, Fähnchen auf Käsehäppchen, Kopfkissen in Rot-Weiß-Blau, ganze Schaufensterkollektionen in den vermeintlichen Primärfarben – in Pennsylvania, dem Mecklenburg-Vorpommern der Vereinigten Staaten, sprießt jede Blüte des Nationalismus. Doch die Studenten, die wegen der hohen Studiengebühren aus New York in die Provinz geflüchtet sind, lachen über den US-Tand. Mein Student Paul trägt die jamaikanische Flagge auf seiner Jeansjacke, Jessica, die, nach ihrem Berufswunsch gefragt, knapp mit "Hillary" antwortet, sagt am 11. September - obwohl noch in Sorge um ihre in New York City lebenden Eltern - nachdenklich: "In a way we deserved this." Jessica ist 19 Jahre alt. Paul haßt das College, den Bundesstaat, das ganze Land, und will am liebsten "ganz weit weg" gehen, irgendwo eine Landkommune gründen. Aber seine Eltern halten nicht viel von dieser Idee: Sie haben ihm auf ärztliches Anraten eine teure "Licht-Lampe" gekauft, um etwas gegen seine Depressionen zu unternehmen. Mrs. Bond, meine Trompetenlehrerin, eine rüstige Mittfünfzigerin, die ihre Hunde Tessie und Jack monatlich auf Hundeshows vorführt, schüttelt den Kopf bei Bushs erster Rede nach dem 11. September. "Tessie, Jack, and me can't understand how we could get that monkey for president." Hieß es nicht, das amerikanische Volk würde jetzt "geschlossen" hinter seinem Präsidenten stehen? War "America Unites" nicht nach dem 11. September wochenlang ein CNN-Slogan? Und sollte nicht mindestens die Provinz begeistert Bush gewählt haben? Bei meinem diesjährigen USA -Besuch - nach 18 Jahren "Beobachtung" dieses Landes, in dem ich viermal an unterschiedlichen Orten gelebt habe – präsentiert sich mir eine Zerstrittenheit und Uneinigkeit in der Bevölkerung wie nie zuvor: Da laufen bei "Wal Mart" ältere Herren in selbstbeschrifteten "Dead or Alive"-T-Shirts herum – ihre Ehefrauen schließen ihnen beschämt den Jacken-Reißverschluß überm Bauch. Ein Wirtschaftsdozent schreibt einen flammenden Artikel über "Ausgrenzung und Diskriminierung arabischer Studenten", der die In-Schutz-Genommenen wiederum wenig interessiert, ein Russischprofessor veröffentlicht einen langen Essay mit dem Titel "Further Reflections On Why They Hate Us", in dem er den Unwillen seiner Mitbürger, andere Länder und Sprachen kennenzulernen, kritisiert und die provozierende These aufstellt, daß die Anschläge vom 11. September vielleicht zu verhindern gewesen wären, wenn die CIA-Mitarbeiter über bessere Arabisch-Kenntnisse verfügt und die Unmengen an Datenmaterial, die monatlich anfallen, besser entschlüsselt hätten. Doch die Putzfrau des Russischprofessors murmelt in einem Selbstgespräch, während sie sein Zimmer ausfegt: "We should throw some bombs." In Kirchen streiten sich Informatikstudenten mit Pastoren über die Definition von Pazifismus, zu einem Vortrag über den "Islam heute" kommen weitaus mehr Menschen, als in den Hörsaal des kleinen Provinzcolleges in the middle of nowhere hineinpassen: die nächstgrößere Stadt hat 12.000 Einwohner und zwei Kneipen, die Penny-Bar, wo eine Limonade 50 Cents kostet, und die Safari-Bar, wo Elchköpfe einem in ewiger Starre beim Essen zusehen. Auch die Panik vor neuen Angriffen scheint die zerstrittenen Amerikaner nicht zusammenzuschweißen: Die einen fragen bei "Wal Mart" nach Gasmasken und im Drugstore nach Antibiotika, die anderen schütteln hinter ihnen in der Schlange vor der Kasse den Kopf darüber. Paul hat, wie er sagt, nachts vorm Einschlafen Angst, plötzlich zur Armee zu müssen. Jessica, die im gleichen Studententrakt wie Paul wohnt, äußert mit ernster Miene, daß die Bude aber wesentlich sauberer wäre, wenn er nach Kabul abzischen würde. Ihr Kommilitone – was ursprünglich bekanntlich "Mitsoldat" oder "Waffenbruder" bedeutete - findet das nicht lustig. Die größten Kriegsfreunde an diesem kleinen College scheinen ein paar Deutsche zu sein, die offenbar meinen, den amerikanischen Kollegen damit ihre Loyalität unter Beweis stellen zu müssen. Wenn die Amerikaner ausnahmsweise über ein anderes Thema als über die Anschläge sprechen, gucken die deutschen Kollegen indigniert und unterbrechen das Gespräch mit pathosgetränkter Stimme, um unwichtige Einzelheiten aus einem Interview mit dem seit ohnehin nicht für zitierungswürdige Sätze bekannten Ashcroft wiederzugeben. Nur über eines scheinen sich die Amerikaner einig zu sein: Die "Utopia" sinkt. Nicht nur der Glaube an eine für Gegner unüberwindbare "splendid isolation" ist verloren gegangen, sondern vor allem der Glaube an eine US-amerikanische Identität und Einheit. Wahrscheinlich haben viele (weiße) Amerikaner erst seit den Anschlägen zur Kenntnis genommen, daß 20 Millionen Araber in "ihrem" Land leben; viele Mittel- und Südamerikaner sind in Dissenz mit den von CNN verbreiteten Ansichten und fallen in einer Zeit der "kollektiven Trauer" durch penetrantes Feiern auf – in Krisensituationen schaut man sich seine Nachbarn genauer an -, plötzlich wird die frappierende Heterogenität der Vereinigten Staaten wieder spürbar. Viele Amerikaner haben ein geradezu pathologisches Bedürfnis, ihre nicht vorhandene "Geschlossenheit" äußerlich zu demonstrieren. Nichts anderes steht hinter der notorischen Obsession, Flaggen zu hissen. Das Land, 1861-65 vom Bürgerkrieg zerrüttet, hat die Folgen dieser Nord-Süd-Dichotomie bis heute nicht wirklich überwunden. Das größte Einwanderungsland der Welt (allein über den Rio Grande flüchten jedes Jahr 750.000 Mittelamerikaner nach Kalifornien und Texas) kann nicht in einer anderen Form existieren denn als Mosaik – wie kaum ein anderes Land ist es durch die Absenz genuiner Charakteristika gekennzeichnet (da die Indianer und ihre Kultur fast vernichtet wurden). Die altbekannte Tatsache, daß die Amerikaner nur auf eine dreihundertjährige Geschichte zurückblicken, verleiht angesichts der Reaktionen in der Bevölkerung nach dem 11. September einen neuen Eindruck von der inneren Fragilität dieser Zufallsbevölkerung, der wirklich verbindende Elemente fehlen. In Hinblick auf diese soziokulturelle Fragilität ist Deutschland vergleichbar mit den USA Die Amerikaner blicken auf eine irritierend kurze Geschichte zurück und die Deutschen auf eine diskreditierte. In beiden Ländern, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs durch die Orientierung der Bundesrepublik an den USA eine große Nähe miteinander verband, ist unterschwellig immer wieder eine Verzweiflung über diese mangelnde Verortung des Individuums im Ganzen spürbar (wer jemals in einem südeuropäischen Land gelebt hat, wird bemerkt haben, mit welch unreflektierter Geschmeidigkeit sich der einzelne in die allgegenwärtige Gemeinschaft einordnet, zum Beispiel wie "fiestas" in Spanien sowohl von alten, konservativ ausgerichteten Menschen als auch von jungen Partygängern gemeinsam begangen werden). Die politischen Repräsentanten Deutschlands fielen in den letzten Wochen durch Duckmäuserei und Demutsgesten auf, der markant masochistische Satz "Wir sind alle Amerikaner" läßt den Gedanken aufkommen, ob vielleicht das gemeinsame Schicksal einer nicht vorhandenen oder verlorengegangen kulturellen Identität Pate bei dieser transatlantischen Verbrüderung steht? Zumindest: Daß Importe der US-Kultur in Deutschland ubiquitär vorhanden sind – anders als in fast allen anderen europäischen Ländern, die sich gegen Kulturimperialismus stärker zu behaupten wissen –, hat sicherlich mit dem spezifischen Vakuum zu tun, das in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg entstand, als "Anknüpfung an die Vergangenheit" nicht ohne weiteres möglich war. Anstatt Heterogenität und Flexibilität als Signum und kulturelles Aushängeschild zu gebrauchen, versuchen die USA jedoch, es anderen Ländern in ihrer Sucht nach Nationalcharakter und stabiler Identität nachzutun. Der 11. September allerdings verdeutlicht wie kaum ein Ereignis zuvor, wo die Chancen und Schwächen der US-spezifischen Situation liegen. Wie Baudrillard in seinem Essay "America" konstatierte (1986), lag gerade in der Abwesenheit einer genuin amerikanischen Kultur die Chance wesentlicher Neuanfänge. Ein Teil der deutschen Intelligenz wanderte in den dreißiger und vierziger Jahren nach den USA aus – als direkte Konsequenz dieses intellektuellen Ausblutens konnte nun New York seine Stellung als "Kulturhauptstadt der Welt" aufbauen. Bedeutende Künstler aus New York wie Barnett Newman, der neben Jackson Pollock und Mark Rothko zum Sprachrohr der Abstrakten Expressionisten avancierte, erklärten kühn, die europäische Kultur befände sich mit ihrem ewigen Bedürfnis nach ausgewogener Bildkomposition, das sich im Grunde nie vom Harmonieverständnis der Antike entfernt hätte, auf einem ästhetischen Irrweg. Man wollte an die Kunst vor der Antike, also "vor der Geschichte", anknüpfen. Amerika wurde als Ort einer sublimen Ästhetik, sowohl in seiner weiträumigen, kontrastreichen Topographie wie auch in der Kunst, Europa als Hort einer kontrollierten, gefangenen, pittoresken Ästhetik empfunden. Natürlich haben auch europäische Künstler immer wieder ihre Kritiker herausgefordert, aber die Kühnheit, der versuchte Verzicht auf historische Referenz (man orientierte sich lediglich an vorchristlicher, archaischer Kunst) - nur mit der "Stunde Null", der "Kahlschlaglyrik" in Deutschland nach Ende des Zweiten Weltkriegs vergleichbar - zeichnete die amerikanische Kunst nach 1945 aus. Warhol ist ein populäres Beispiel, dessen innovative Kühnheit und ästhetischer Rigorismus vielleicht mehr fasziniert als seine auf die Dauer langweiligen Werke selbst – er ist weniger ein "Meister" als ein Präzedenzfall. Diese Voraussetzungslosigkeit hat den Amerikanern lange Zeit das Gefühl gegeben, sowohl auf einer kulturell vakanten Bühne ohne verstaubte Büsten zu agieren, als auch politisch nicht im Schatten einer schreckensgeprägten Vergangenheit zu stehen und im gegenwärtigen Handeln paralysiert zu werden. Dabei sei wieder angemerkt, daß die Verdrängungsleistung der Amerikaner in bezug auf den Genozid an den Indianern sehr ausgeprägt ist: Da die Vorfahren der meisten Amerikaner erst später "hinzukamen", fühlt sich niemand für etwas verantwortlich. USA als Utopia für die Europäer: Das Gelobte Land während des Zweiten Weltkriegs. "Villa Aurora": weißer Palast am kalifornischen Pazifik, Wohnsitz der Exilianten Lion und Marta Feuchtwanger, Treffpunkt von Geistesgrößen und Künstlern wie Brecht, Thomas und Heinrich Mann, Döblin, den Werfels, Adorno, Horkheimer, Horowitz, Schönberg, Toch, Rubinstein, Paul Dessau, Fritz Lang, Marlene Dietrich - um nur ein paar aufzuzählen. Nach Meinung einiger Kulturwissenschaftler hat es noch nie an irgendeinem Ort (ausgenommen vielleicht das Paris der zwanziger Jahre) eine solche lokal überschaubare Simultanität berühmter Künstler und Denker gegeben. Das lasterhafte, ahistorische und häßliche Los Angeles als Zentrum der Jahrhundert-Kreativen? Schlicht: Yes. "What is thought of in Europe becomes reality in America (...)", notiert Baudrillard über den "Alles ist möglich!"-Mythos, mit dem Amerika sich selbst bewirbt. Amerika beschreibt er sehr treffend als "achieved utopia". Ein Land, in dem von Utopien nicht geträumt wird, sondern ihre direkte Umsetzung naiv und respektlos angegangen wird. "Fait accompli" nennt Baudrillard diese "uneuropäische", da "konkretisierte" Utopie. Die bekannte Reisemaxime "Europe in 5 days", wäre ein Beispiel hierfür. In den vierziger bis sechziger Jahren verloren die USA durch ihre paranoid betriebene Kommunistenhetze sowie die Katastrophe des Vietnamkriegs den (natürlich ohnehin imaginären) Status der "unbelasteten neuen Welt", in der Thomas Mann mit weißem Anzug und Strohhut unter Palmen flanierte, während in Deutschland seine Bücher verbrannt wurden. Nach der Wende wiederum gründete sich die Faszination an diesem Land nicht mehr auf die Bewunderung für die kulturlosen "edlen Wilden" auf der anderen Seite des Atlantiks, sondern für die erfolgreichen Geschäftsmänner, die nach Zusammenbruch des Ostblocks erst recht als – SPIEGEL-Titel von 1996 – "Herren der Welt" ebenso nonchalant wie subkutan (oder sichtbar) grausam die terrestrischen Geschicke dirigieren. Amerikanismus wandelt sich in Antiamerikanismus, und die USA gerieten zur Negativ-Utopie: das Land, das die skrupellosesten Amokläufer hervorbringt, in dem Schüler ihre Mitschüler erschießen, christliche Fundamentalisten Abtreibungsärzte niedermetzeln, Richter drakonische Strafen für Drogenbesitz verhängen, gewaltige Rassenunruhen toben, die dicksten Leute leben, die hysterischsten Frauen in den miesesten Soaps spielen, das schlechteste Essen serviert wird und so weiter. Daß der bisher größte Terrorakt die USA traf, korrespondiert mit der naiven europäischen Vorstellung von der "Unermeßlichkeit", die dieses Land in jeder Hinsicht – "in good or bad" - ausmacht. Schließlich waren die Amerikaner die erste und einzige Nation, die die Atombombe abwarf ... Doch selbst mit ihrem Profil als "Negativ-Utopia" haben die USA noch immer ihre Gegner fasziniert. Die düsteren, US-kritischen Bücher von Bret Easton Ellis waren ein ungemeiner Verkaufserfolg in Europa. Die USA waren immer noch eines der beliebtesten Reiseziele für deutsche Touristen – knapp hinter Spanien und Italien. Schimpfen über die Vereinigten Staaten war zwar en vogue, die Green Card wollten aber viele. Um die Marlboro-Reisen bewarben sich jedes Jahr Tausende – die sicherlich als gesinnungskorrekte Globetrotter auch über die "Auswüchse der Werbung" herzogen. Während sich für den gepflegten Anti-Amerikanisten durch die kriegerische Intervention in Afghanistan nur bestätigt, was er "schon immer gewußt hat", die Negativ-Utopie also leuchtend in den Farben des Teufels fortlebt, bricht für die Amerikaner ihr fragmentiertes Selbstbild zusammen. Es ist, als hätte man einem in die Jahre gekommenen Zauberkünstler plötzlich unsanft zu verstehen gegeben, daß man alle seine Tricks durchschaue. "It is not the least of America's charms that even outside the movie-theatres the whole country is cinematic", schrieb Baudrillard 1986. "Where is the cinema? It is all around you outside, all over the city, the marvellous, continuous performance of films and scenarios." Der Glaube an das eigene Land (und sei dies auch nur eine Fiktion) - stark genug, um junge Amerikaner, die nie über die US-Grenzen hinausgereist sind, wie in Trance sagen zu lassen: "America is the greatest country in the world" - wurde durch den Vietnam-Krieg verletzt, doch dieses kollektive Trauma wurde vom "Sieg" über den Kommunismus wieder verdrängt. Nie ging es den Amerikanern so gut wie in der letzten Dekade, es gab einen Haushaltsüberschuß in Billionenhöhe: Man konnte es sich leisten, über Triviales wie das Sexualleben des Präsidenten zu parlieren, während anderenorts Kriege geführt, Städte und Länder verwüstet wurden oder schlicht in Armut versanken. Die Verwirrung und Verzweiflung vieler Amerikaner, die ich nun traf, war grundlegend – und fällig. Entropisch, chaotisch, ungelenk – für den "Koloß", den Bin Laden in seiner "David- und Goliath"-Theorie skizziert hat, ist der Verlust der eigenen "magischen" Identität schwerer zu verkraften als alles andere. New York als Signum des "fait accompli", der real gewordenen Utopie, fungierte als Zielscheibe, und kein David Copperfield zaubert die Zwillingstürme wieder her. Die Angriffe auf das World Trade Center und das Pentagon haben so wenig eine sozial integrative Wirkung wie vor Beginn des Ersten Weltkriegs die Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand im von verschiedenen Interessen zerrissenen sprichwörtlichen "Völkergefängnis Österreich-Ungarn". Zu Beginn des "dritten Weltkriegs", bei dem Angreifer und Gegner beiderseits von diversen Ländern aus operieren, führt die komplexe Situation in einem hoch individualisierten Land, bei dem kaum die Hälfte der Bevölkerung überhaupt genug "Vaterlandsliebe" verspürt, um auch nur einen Wahlzettel auszufüllen, zu einer weiteren Desintegration – die Fahnen auf CNN entspringen nur dem aus Angst geborenen Reflex, die undirigierbaren Massen, verstreut über ein gigantisches Land, zu einem seit dem 11. September immer unglaubhafter gewordenen nationalen Identitätsgefühl zu bekehren. Natürlich läuft in vielen Haushalten CNN. Aber "die" Amerikaner essen Kartoffelchips. Oder Hummus-Fladen. Oder Sojabohnen-Cake. Oder fahren zur nächsten Hunde-Show. Oder stellen sich wegen unerklärlicher Depressionen unter gleißend helles Licht. Pennsylvania / USA, im September 2001 |
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