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Café "Neue Welt": Warschauveröffentlicht in "WELT", 2001Kaum hat man in Warschau das schmuddelige Bahnhofsgelände verlassen, ist man von einem Stadtbild umgeben, das zu Recht die Wendung "wie Phoenix aus der Asche" provoziert. Viele junge Leute bevölkern die Straßen, Cafés, Restaurants, Boutiquen und Galerien reihen sich dicht an dicht, Geschäfte mit zappeligen Verkäufern bieten "Komputery" feil, in der schon 1953 rekonstruierten Altstadt spazieren Touristen - die Bilder der völligen Zerstörung Warschaus durch die Deutschen scheinen einer fernen Zeit anzugehören. Es ist ganze 57 Jahre her, da verlautbarte der tollwütige Nachbar jenseits der Oder: "Es wird nie wieder Polen oder eine polnische Nation geben", und nach 1945 wurden ernsthafte Überlegungen angestellt, die fast vollständig verwüstete Stadt an anderer Stelle neu zu gründen, das hauptstädtische Trümmerfeld der Natur zu überlassen. Doch die Polen sammelten Geld, spendeten, engagierten international renommierte Architekten und Bauleiter, sie wollten Warszawas vertrautes Gesicht wiedersehen. Die schon Mitte der fünfziger Jahre mit dem sprichwörtlich gewordenen "Warschauer Tempo" wiederaufgebaute Altstadt am westlichen Weichselufer ist daher eine perfekte Kopie. Warschau: das viel imposantere Las Vegas: Nichts ist erfunden, nichts Wesentliches am Altstadtbild verändert worden, alles ist da, am gleichen Ort, jedes Tor, jede Treppe, alles ist echt und doch unecht, dort, wo kein Stein mehr auf dem anderen gestanden hat. Mit "Warschauer Tempo" haben die Polen das Rad der Zeit zurückgedreht; der Trotz, jedes Haus, jeden Giebel exakt zu rekonstruieren, der Trotz, die Kraft, der Zerstörung durch die Deutschen aus dem Nichts der frühen fünfziger Jahre heraus diese schillernde Dublette entgegenzuhalten, imponiert, und doch kann in einem das Gefühl aufkommen, daß das doppelte Ungeschehen-Machen, erst durch die Deutschen, dann durch die Polen, nicht zurück zum historischen Ausgangspunkt, zur intakten Stadt führt. Denn gerade in der Makellosigkeit des Wiederaufbaus wird der Schmerz über die Zerstörung evident, fehlt doch die trostspendende, Patina, der Schmutz der vielen Jahre, fehlen die Nachlässigkeiten des Alltags - weshalb man sich in einem Heimatkundemuseum nicht heimisch fühlt. Doch mit einem Blick nach oben zu den hellrot leuchtenden Wolkenbändern, die hier scheinbar endlos ausgespannt auf dem Strecktisch des Himmels liegen, kommt der Gedanke auf: Die Zeit wird den Polen recht geben; in einigen hundert Jahren wird die neu aufgebaute Altstadt einfach "die" Altstadt, eines der ewigen Wahrzeichen Polens, sein, und die versuchte Vernichtung durch die Deutschen ein Datum im Geschichtsbuch. Vielleicht. Nun ist die Stadt insgesamt jenseits ihres kulissenhaften Charakters, jenseits ihres fata-morganahaften Flimmerns vor der Folie der einstigen Trümmerwüste in überraschender Weise ein Mosaik, ein lebendiges Zeitdokument ihrer bewegten Historie: detailgetreue Rekonstruktionen klassizistischer Bauten neben dem postmodernen IKEA-Gelände, der wunderbare – unzerstört gebliebene - Łasienki-Park (das Sanssouci Warschaus) mit seinem schwimmenden Amphitheater neben kühner Architektur aus den Nachwende-Jahren. Im Kulturpalast, dem "russischen Geschenk", einem die Stadt optisch dominierenden Koloß von 235 Meter Höhe, werden heute die neuesten Hollywood-Streifen gezeigt; auch Poetry Slam bekommt man dort zu hören. Mädchen in T-Shirts, auf denen in geschwungenen Glitzerbuchstaben "Babe" steht, laufen, in ihre Handies kichernd, die Ulica Marszałkowska entlang; eine Straße, deren wuchtige, kommunistisch geprägte Architektur die stalinistischen Bauten an der Karl-Marx-Allee in Berlin vergleichsweise niedlich erscheinen läßt. Das gelegentliche Lachen der Mädchen hallt laut auf und verechot zwischen den Mammutbauten. Graffitikunst spiegelt wie in so vielen Städten Zeitgeschehen: "Coca Cola front!", "Stalin mial racje 666!!" und - in deutsch - "Der lange Weg zur Freundschaft ...?" prangen an den Wänden. Das "russische Geschenk" erfreute sich lange Zeit keiner großen Beliebtheit in der Hauptstadt Polens. So platziert, daß er von fast jedem Standort in Warschau zu sehen ist, war der Kulturpalast ein manifest gewordenes Symbol der sowjetischen Fremdherrschaft. Die Polen konterten mit dem Satz: "Der schönste Ort Warschaus ist die Aussichtsplattform vom Kulturpalast, weil man den Kulturpalast von dort nicht sehen kann." Ironie der Geschichte: Die Russen orientierten sich, wie auch schon beim Bau ihrer Lomonossow-Universität, an New Yorker Hochhäusern aus den Zwanzigern, besonders an Bauten am Central Park. Die an der Weichsel gelegene Stadt scheint eine innere Dichotomie zu besitzen: Am westlichen Ufer hat sich nach 1989 der Blick verstärkt in den Okzident gerichtet. Im Café "Nowy Swiat" ("Neue Welt") an der gleichnamigen Edelgeschäftsstraße Warschaus hängen Gemälde mit Straßenszenen aus Paris, London und New York. In einer "Schokoladeria", einem an Wien erinnernden Salon, nippt man das braune Glück auf mintfarbenen Brokat-Sofas zu klassischer Musik. Doch auf der anderen Seite der Weichsel, "Praga" genannt, wird man eher an Moskau oder Minsk erinnert. Der riesige Basar im alten Stadion mit vielen russischen Händlern, der osteuropäische Sprachenwirrwarr und auch die augenfälligere Armut, lassen den Westen ferner erscheinen. Hier ist auch das Graffito: "Intoxication is not rebellion, think before you drink" zu entdecken. Warschau, im Juni 2001 und im Mai 2005 |
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