veröffentlicht in ZEIT Online, 16.9.2008
Helmut Schmidt plädiert für die Weiternutzung der Kernenergie – und vernachlässigt die Risiken. Dabei ist heute vor allem eines angesagt: Energie sparen. Eine Kolumne
Einen Elder Statesman zu kritisieren ist so eine Sache. Vor allem, wenn es Helmut Schmidt ist. Viele Menschen scheinen ihre Bewunderung für sein hohes Alter (trotz ungesundem Lebenswandel) und für seinen guten Geschmack in Kleider- und anderen Stilfragen mit konstruktiven Vorschlägen zur aktuellen politischen Situation zu verwechseln.
Helmut Schmidts neueste Ausführungen zur Kernenergie , die er schon immer entschieden befürwortete, sind jedoch nicht nur für viele Mitglieder seiner SPD eine Provokation. Sie liegen auch in der Sache daneben.
Endlich hat die Novelle des Erneuerbare- Energien-Gesetzes (EEG) im vergangenen Monat den Bundestag passiert; endlich geht es mit den Offshore-Windparks voran; endlich gibt es aufgrund der enorm gestiegenen Energiekosten einen neuen Ansatz, darüber nachzudenken, wie wir unsere Energiebilanz weniger verschwenderisch gestalten könnten – und da hat der Altkanzler nichts Besseres zu tun, als den Ausstieg aus dem Atomausstieg zu fordern, wenn auch nicht unbedingt sofort.
Zum schwer abschätzbaren Risiko der Kernkraftnutzung und ihrer Hinterlassenschaft, das so viele umtreibt, meint der 90-Jährige beneidenswert angstfrei, dass es „ethisch vertretbar sei“.
Aha. Die etwa 200.000 vom Reaktorunfall in Tschernobyl gesundheitlich beeinträchtigte oder an den Folgen gestorbenen Menschen in Mittel- und Osteuropa – darunter viele Schilddrüsen- und Leukämietote in der Ukraine und in Weißrussland – fallen also ethisch nicht ins Gewicht.
Auch die höheren Zahlen an Leukämiefällen in der Nähe deutscher Atomkraftwerke scheinen Helmut Schmidt ethisch vertretbar zu sein. Ungeklärte Endlagerung? Klärt sich von selbst. Illegaler Handel mit waffenfähigem Uran? Mögliche Terroranschläge auf AKWs? Militärische Verwendung von Atomprogrammen wie im Fall Iran? Alles Themen, die weder dem Altkanzler noch den CDU-Atombefürwortern ernsthafte Sorgen zu machen scheinen.
Vor zwei Jahren hätte sich im schwedischen Forsmark beinahe ein zweites Tschernobyl ereignet. Der Direktor der schwedischen Kernkraftinspektion (SKI) sagte damals, dass es „nur mit purem Glück nicht zu einer Kernschmelze gekommen ist“.
Den gleichen Konstruktionsfehler wie in Schweden gibt es laut Greenpeace auch in deutschen AKWs. Die Umweltorganisation bringt es knapp auf den Punkt: „Es ist ein Märchen, dass europäische Reaktoren sicherer seien als russische.“
Mit koketten Sätzen wie „Es gibt aber keine Energie und nichts auf der Welt ohne Risiken, nicht einmal die Liebe“ schleicht sich Helmut Schmidt in die Herzen ein und verharmlost durch seinen unpassenden Vergleich die Gefahren der Atomkraft. Jeder Kernenergiegegner wird plötzlich als lustfeindlicher Kontrollfreak dargestellt – geschickte Rhetorik, Respekt!
Einige Leser von Schmidts Äußerungen haben sich jedoch nicht beeindrucken lassen. So stellt eine Frau schlicht fest: „Mit 90 Lebensjahren ist es dann irgendwann auch mal so weit, den Jungen die Entscheidung über ihre Zukunft zu überlassen.“ Ein anderer schreibt: „Das Endlager für Atommüll gehört dem Herrn Schmidt direkt vors Haus geparkt.“
Die Journalistin Tanja Busse, Autorin des Buchs Die Einkaufsrevolutionärin , kommentiert die neu entbrannte Atomdebatte: „Wir wohlhabenden Bewohner der Industrienationen haben mal eben das Weltklima versaut und riskieren das Leben von Millionen Menschen im armen Süden. Um zu retten, was zu retten ist, setzen wir auf ein anderes Weltrisiko.“
Auch Helmut Schmidts Argument „Ich finde es erstaunlich, dass unter allen großen Industrienationen der Welt – von den USA bis China, Japan und Russland – die Deutschen die Einzigen sind, die glauben, sie könnten ohne Kernkraft auskommen“ ist wenig überzeugend. Die genannten Länder stehen allesamt eher in der Kritik, was ihre Umweltpolitik angeht, als dass sie mit leuchtendem Beispiel vorangingen.
Deutschland kann sich beim Umgang mit Energie nicht mit einem Land wie China vergleichen, das die industrielle Revolution, die sich hierzulande im 18. und 19. Jahrhundert vollzog, erst jetzt erlebt. Üblicherweise richtet man in Deutschland gern den Zeigefinger in Richtung „böses“ China. Jetzt dürfen wir aber bitte keine vernünftigere Energiepolitik anstreben als die Chinesen!
Im Übrigen greift Helmut Schmidts Rhetorik ins Leere: So gut wie kein Mensch spricht in Deutschland davon, die Atomkraftwerke von heute auf morgen abzuschalten.
SPD-Generalsekretär Hubertus Heil sagt dagegen zu Recht, es sei eine „Fabel“, dass die Strompreise oder Benzinkosten für die Verbraucher bei längeren Restlaufzeiten sinken würden. Vielmehr versprächen sich die Konzerne nur mehr Profit.
Diese Annahme wird durch jüngste Zahlen des Öko-Instituts in Freiburg gestützt: Der Verbraucher würde bei einer Langzeitverlängerung der deutschen AKWs danach monatlich eher um Cent- als um Euro-Beträge entlastet.
Viel wichtiger als Schmidts 60er-Jahre-Denken, als diese „Höher-größer-weiter-schneller“-Mentalität, die wir uns nicht mehr leisten können, ist es, sich Gedanken darüber zu machen, wie man in einer Gesellschaft, die an eine kontinuierliche Steigerung der Lebensqualität gewöhnt ist, Einschränkungen der Energiespaßfreiheit populär machen kann.
Nach Ansicht des Psychologen Micha Hilgers, Berater zahlreicher Umweltorganisationen, besteht das Problem nicht nur im nach wie vor mangelnden Angebot massenkompatibler Energiespar-Produkte (Hybridautos für 50.000 Euro), sondern auch darin, dass Verhaltensänderungen Angst auslösen. Und wenn es nur um den Wechsel des Stromanbieters geht („Taut mir die Tiefkühltruhe ab, weil ich plötzlich keinen Strom mehr in der Steckdose habe?“).
In einer überflexibilisierten Gesellschaft, in der man meint, ständig mobil und erreichbar sein zu müssen, gibt man ungern das eigene Auto auf, um auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen. Doch Hilgers ist zuversichtlich: „Es sind immer Minderheiten, die Trends setzen und den Mehrheiten attraktive Lebensstile vorleben.“
Vielleicht könnte Angelina Jolie ja demnächst mal mit ihren Zwillingen aus dem Greyhoundbus winken statt aus dem Sportwagen …