Auf Großvaters Spuren. Die multimediale Ausstellung „Asservate. Chronik einer deutschen Familie 1907-1997“ (Jungle World, November 2002)

veröffentlicht in Jungle World, November 2002


Daß Großvater früher ein junger Mann war, daß er ein Bein wie jeder andere und keine Prothese besessen, daß er einmal eine Pistole und keine Pfeife in der Hand gehalten hat – alles schwer vorzustellen. In ihrer in diesem Jahr erschienenden Studie „Opa war kein Nazi – Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis“ thematisieren die Soziologen Welzer, Moller und Tschuggnall die Frage nach dem Umgang der „Enkelgeneration“ mit dem Wissen über die Mittäterschaft ihrer Großeltern und anderer naher Verwandter. In zahlreichen intergenerationellen Interviews mit West- und Ostdeutschen kommt das Soziologenteam zu dem ernüchternden Ergebnis, daß trotz großen gesellschaftlichen Anstrengungen nach dem Krieg hinsichtlich einer umfassenden „Aufklärung“ der Greuel des Dritten Reichs, die eigenen Verwandten von der jüngsten Generation meistens durchweg als Opfer oder Unbeteiligte und selten als Mitbeteiligte, Mitschuldige oder gar aktive Täter eingeschätzt werden. Selbst wenn – wie in einem Beispiel – der Familie bekannt ist, daß der Großvater ein hohes Amt in der NS-Hierarchie bekleidet hat, wird er von seinem Enkel als zur Mitgliedschaft gezwungenes Opfer in Schutz genommen. Die Möglichkeit einer anderen – früheren – Persönlichkeitsfacette jenseits der Identität als „lieber Opa“ scheint abwegig.

„Neben einem wissensbasierten ‚Lexikon‘ der nationalsozialistischen Vergangenheit existiert ein weiteres, emotional bedeutenderes Referenzsystem für die Interpretation der Vergangenheit: eines, zu dem konkrete Personen – Eltern, Großeltern, Verwandte – ebenso gehören wie Briefe, Fotos und persönliche Dokumente aus der Familiengeschichte. Dieses ‚Album‘ vom Dritten Reich ist mit Krieg, Heldentum, Leiden, Verzicht und Opferbereitschaft, Faszination und Größenphantasien bebildert, und nicht, wie das ‚Lexikon‘, mit Verbrechen, Ausgrenzung und Vernichtung“, konstatiert das Soziologenteam und fühlt sich nach seinen Ergebnissen genötigt, die Bedeutung der subjektiven Tradierung von Geschichte (persönliche Gespräche, Familienfotos etc) im Vergleich zu objektive(re)n Ansätzen, wie sie Schulunterricht, Dokumentationen in den Medien etc. darstellen, hervorzuheben.

Die Berliner Fotografin Susanne Schleyer (Jahrgang 1963), aufgefallen schon durch andere Arbeiten, bei denen die nachhaltige Präsenz der NS-Vergangenheit reflektiert wurde (z.B. eine vom DAAD geförderte Arbeit über das Mit- und Nebeneinander von ehemaligen Nazis und Exilianten in Argentinien), hat sich nun dieses Themas mit einer ungewöhnlichen Arbeit angenommen:

„Asservate – Chronik einer deutschen Familie 1907- 1997“ nennt sie ihr imaginäres Familienalbum, das in ihren in diesem und im folgenden Jahr zu besichtigenden Ausstellungen stets in Raummitte auf einem Tisch liegt und den Besucher zum Herumblättern einlädt. An den Wänden hängen verschiedene meist großformatige Fotos der Familie. Auf einem Tonband – vorgelesen vom Vater – die Kriegstagebücher des Großvaters. Eine multimediale Ausstellung, die unter die Haut geht und von der Sehnsucht nach der Aufdeckung von Familiengeheimnissen und –lügen in seiner Akribie und Originalität bewegt Zeugnis ablegt. Schon der bewußt sachlich gehaltene Titel suggeriert, daß es dieser „Enkelin“ jenseits der persönlichen Gespräche, die zu viele Lücken in der Textur des Familiengewebes, zu viele Fragen offenließen, in dieser Arbeit um Wahrheitsfindung, um nüchterne Klärung geht.

Anlaß für Susanne Schleyer war tatsächlich die erst nach dem Tod des Großvaters erfahrenen Verwicklungen desselbigen im NS-Regime. Vom 1934-36 war Erich Otto Schleyer zum Beispiel SA-Standartenführer in Weimar. Ins Zentrum ihrer Arbeit hat die Künstlerin den Großvater sowie die Lebenswege weiterer Männer in der Familie: Vater und Bruder gerückt. Die spät gefundenen Fotos des SA-Standartenführers stellt sie – gleichsam um die „Lücken“ zu füllen – neben ihr altbekannte Familienalbumfotos, von ihrer Mutter in Schönschrift stets mit kleinen Zusätzen wie „Weihnachten 1963, Susannes Geburt, Gartenparty“ etc. versehen.

In den einst unsichtbaren Freistellen taucht plötzlich „Willy als Schützenkönig“ neben riesigen Hakenkreuzflaggen auf. Die Gartenparty wird plötzlich von den Aufzeichnungen des Großvaters untermalt: „Trotz heftigem Abwehrfeuers haben wir nach 3 Stunden das Fort genommen und 300 Gefangene gemacht. 18 Uhr wird die Hakenkreuzflagge gehißt. Zum ersten Male schlafen wir wieder ruhig.“ Da stehen plötzlich der Großvater in Wehrmachtskluft mit Hakenkreuzbinde am Arm (1933) neben dem rekrutierten Bruder (1984). Da werden plötzlich durch die Chronologie vernachlässigende, auf Sinnzusammenhang bedachte Sprünge der Künstlerin Muster, Verläufe, Parallelen und so etwas wie fotografische Analyse von „Mannwerdung in Deutschland“ sichtbar. Für sich sprechende Details finden sich gerade in den den Alltag dokumentierenden Fotos: Eine Hakenkreuzfahne in die Landschaft einer Kindereisenbahn eingelassen, zwischen Puppenstubenhäusern und Ampeln. Manchmal sind die Sinnzusammenhänge ganz poetischer Natur: Dem Bildkommentar „Thomas hat Vereidigung – 16. 11. 1984 in Schneeberg“ folgt ein Foto vom Grab des Großvaters: Ein verschneiter Hügel. Das Todesdatum: wieder der 16. 11. – Mit diesen feinsinnigen Querverweisen deutet Schleyer auf den Charakter der Schicksalsgemeinschaft hin, den eine Familie immer besitzt, trotz räumlicher oder emotionaler Distanz. Im Hintergrund ist aus Großvaters Kriegstagebuch zu vernehmen: „Sylvester 1939 aber feierte ich zum ersten Male fern von der Heimat mit den Kameraden im Felde. Unsere Hoffnung für das Jahr 1940 aber war Kampf. Denn der Kampf mit der Waffe war die Krönung meines Einsatzes für den Führer.“

In diesem Versuch zu einem „ehrlicheren“ Familienalbum wird auf traurige und anrührende Weise deutlich, wie sehr die Männer der „Großelterngeneration“ an ihren Idealen und Träumen gescheitert sind: Den hoffnungsfrohen Fotos und Kommentaren „Groß-Deutschlands Freiheitskampf 1939 – 1940 – 1941“ – stolz werden einzelne Stationen festgehalten: „Der II. Zug“ – „Vor dem Quartier in Sponheim“ – eine Loirebrücke wird wie ein Leistungsnachweis in verschiedenen Stadien der Zerstörung gezeigt – folgen die Bilder der Gräber. Cousin Wolfgang – abgestürzt über Bordeaux, Helmut – vermißt in Rußland, und schließlich der sportliche, gutaussehende, markige Großvater „Erich Otto“ selbst, der schon auf dem Foto vom „letzten Urlaub“ mit gekrümmten Schultern, eigentümlich an den Bildrand gerückt, den Blick gesenkt, wie ein gebrochener Mann wirkt. Das leere Pathos „gefallen fürs Vaterland“ drückt deutlicher als jeder andere Satz, jede andere Geste, die Hilflosigkeit der Familienmitglieder aus. Eine auswendig gelernte, kopierte, adaptierte Wendung, die nichts über die eigentlichen Gefühle der Angehörigen aussagt – außer daß der Tod des Familienoberhaupts, und, implizit, der Untergang Deutschlands, einfach nicht antizipiert, nicht für möglich gehalten wurde. Eine hilflose Floskel angesichts des schlichten, schief stehenden Soldatengrabs.

Das Album legt auch Zeugnis vom Wechsel verschiedener diktatorischer Regimes ab: Jugendweihen werden begangen, Westbesuch taucht auf, und da gibt es  Gemeinsamkeiten über die Generationen hinweg: die Liebe zur Musik, der Horn blasende Vater, die „Bolschewistische Kurkapelle“ später mit dem Bruder, Pilze suchen in den Dreißiger Jahren, auf einer Kuhweide sitzen in den Neunzigern. Auch der Alltag in Form von U-Bahnfahrten oder Vorm-Bildschirmsitzen hat Eingang in dieses besonders Album gefunden. Kein Album für die „schönsten Momente des Lebens“, sondern die repräsentativsten.

„Die Künstlerin hat ein für uns Betrachter begehbares Familienalbum über die Zeitläufe hinweg geschaffen, ein Kunstwerk, daß uns mit allen Sinnen anspricht, beansprucht (…) und uns entläßt mit bedrängenden Fragen nach der Bilderordnung im ureigenen Mikrokosmos (Familie), nach den Verdrängungsbildern“, so Jörg Sperling.

Die Ausstellung wurde u.A. von der Bundeszentrale für politische Bildung gefördert.

Zur Ausstellung erhältlich in bibliophiler Ausstattung:

Susanne Schleyer: Asservate, Chronik einer deutschen Familie 1907 – 1997, limitierte Auflage

© Tanja Dückers, November 2002

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