Jungle World, 15. März 2006
Cécile Wajsbrot erzählt über Liebe und Verrat im Frankreich der Vichy-Zeit.
Cécile Wajsbrot hat ein ungewöhnliches und aufwieglerisches Buch über die Zeit der Kollaboration geschrieben, das in Frankreich heftig debattiert wurde. Nun liegt es, wie auch die anderen Romane der jüdisch-französischen Autorin, Jahrgang 1954, auf Deutsch vor und wird zur Buchmesse vorgestellt. Um was geht es in »Der Verrat«?
Louis Mérian, ein 70jähriger ehemaliger Radiosprecher, soll in einer Sendung die glorreiche Geschichte des Rundfunks rekapitulieren. Während er die immerselben Phrasen über seine große Zeit in den fünfziger und sechziger Jahren wiederholt, beharrt seine junge Gesprächspartnerin jedoch darauf zu erfahren, was er während des Krieges gemacht habe – ob er denn BBC gehört habe. Er verneint, behauptet, damals nur den Vichy-treuen Sender Radio Paris gekannt zu haben, er fertigt sie ab, erklärt, sie als junge Frau könne die damalige Zeit nicht beurteilen. Doch später in der Einsamkeit seiner Wohnung gelingt es ihm nicht, die Erinnerung an dieses Gespräch zu verdrängen. Die junge dunkeläugige Moderatorin erinnert ihn an seine große Liebe. Plötzlich sucht er, der vorher schroff gewesen ist, wieder den Kontakt zu der Journalistin – und erinnert sich bei einem weiteren Treffen mit ihr an die Frau, die er im besetzten Paris kennengelernt hat. Seine jüdische Geliebte Sarah war im Untergrund aktiv, doch Louis fehlte der Mut für solche Unternehmungen. Außerdem war er seiner Familie hörig, die nichts von solchen Aktivitäten hielt. Und auch nichts vom Kontakt mit Juden. Die Familie Mérian war nicht einmal besonders antisemitisch, nur feige, man fürchtete die Konsequenzen, die sich aus dieser Beziehung ergeben könnten.
Der Pensionär Louis rekapituliert ein halbes Jahrhundert später sein allzu bequem-harmloses Leben als Radio-Talkmaster mit Sinn für Plänkeleien. Er erinnert sich an die Begegnungen mit Sarah im Untergrund und seine unterlassene Hilfeleistung, als sie verfolgt und gehetzt vor ihm stand, um sich zu verabschieden. Aus seinen anfänglichen Plänen, mit ihr nach England zu fliehen, wurde nichts – er brachte es nicht einmal über sich, gegen den Willen seiner Eltern bei ihr über Nacht zu bleiben.
Die Kapitel von Louis wechseln sich ab mit denen von Ariane, der Moderatorin, die über das Frankreich der Gegenwart, die kollektive Flucht vor der Vergangenheit sowie über die Gründe für das Scheitern ihrer Beziehungen zu Männern reflektiert. Große und kleine Welt greifen in dem Roman ineinander, das Verhalten von Figuren wird aus dem Geist einer Epoche soziologisch und politologisch begründet. Ariane beschreibt, wie ihr damaliger Freund Stephane sie seinen Eltern das erste Mal vorstellt. »Ich bin Jüdin«, hatte sie gesagt. »Das macht doch nichts«, hatte der Vater, ein aufgeklärter Bildungsbürger, gutmütig geantwortet und nicht einmal gemerkt, welche Vorurteile ihn sein Leben lang begleitet haben. Auch den Spruch »Ich erinnere mich nicht« bekommt Ariane oft zu hören. Für sie und ihre Familie ist die Vergangenheit dagegen nicht zu verdrängen. Viele Familienmitglieder sind ermordet worden. Scheinbar beiläufig erfährt man in »Der Verrat« eine Menge über die Zwei-, Drei- oder Vierklassengesellschaft in Frankreich, über nächtliche Metro-Fahrten in Paris und über elegante Straßen, in denen die Häuser »immer nur weitervererbt werden«.
Manche Sätze aus dem Frankreich der Gegenwart könnte man auch auf das Deutschland der Gegenwart anwenden: »Es heißt jetzt, die Stimmung im Land sei schlecht, man sprach von Arbeitslosigkeit und Unsicherheit, vom Börsenindex und von fallenden Zinsen, von einer Regierung zur anderen wiederholten sich dieselben Themen, man brauchte eine Lupe, um die Rechte von der Linken und die Linke von der Rechten zu unterscheiden, die Wirtschaftskrise hatte nicht nur Frankreich, sondern ganz Europa erfasst, aber nur in Frankreich wurde die Wirtschaftskrise von einer moralischen Krise begleitet, weil die eilige und ohne richtige Fundamente erstellten Nachkriegsgebäude Risse zeigten, weil die Risse immer tiefer und länger wurden, sich kreuzten und das Ganze einzustürzen drohte.«
Wajsbrot macht es sich nicht einfach, sie prangert den kollektiven Verdrängungsakt nicht einfach nur an, sondern untersucht, wie das Erinnerungsvermögen jeder einzelnen ihrer Figuren funktioniert, was wird wann wie erinnert und was wird wann vergessen. Und warum tauchen bestimmte Erinnerungen machtvoll wieder auf?
Wajsbrot, die in ihren Romanen politisch heikle Themen souverän und multiperspektivisch aufblättert, ist eine hervorragende Stilistin – lange hat man nicht mehr so überzeugende und originelle Schilderungen der Qual des Erinnerns wie auch des Vergessens gelesen.
Louis Mérian hat kein einziges Foto seiner Jugendliebe Sarah, aber die plötzliche, äußerst lebendige Erinnerung – 50 Jahre später – daran, wie es sich anfühlte, über ihr seidenweiches Haar zu streichen, bringt ihn fast um den Verstand. Sehr bewusst konterkariert Wajsbrot die offiziell-rationale Erinnerungskultur mit der unberechenbaren, subversiven Erinnerung und Verdrängung im einzelnen Subjekt.
Wajsbrots gebrochener Protagonist wird sich immerhin, wenngleich spät, als Pensionär, über seine Schuld bewusst – die Schuld der unterlassenen Handlung. Er realisiert, dass er seine unterlassene Hilfe nicht damit entschuldigen kann, dass seine Eltern und seine ältere Schwester damals keine Jüdin bei sich aufnehmen wollten. Es hätte andere Wege gegeben, und er war damals kein Kind mehr, sondern ein erwachsener Mann, und er hatte vor, Sarah nach dem Krieg zu heiraten. Kaum etwas ist gespenstischer in »Der Verrat« als die Szene zwischen den über 70jährigen Geschwistern, Anne und Louis, in der sie sich, ein halbes Jahrhundert nach Sarahs Tod, in der Gedenkstätte Auschwitz darüber unterhalten, wie man Sarah doch noch hätte retten können. »Wir hätten sie bei unseren Verwandten auf dem Land unterbringen können …«, meint die greise Schwester. »Dafür ist es jetzt ein bisschen spät«, gibt Louis matt zurück.
Und Ariane, die Moderatorin, räsoniert: »In den Geschichtsbüchern stand eine gewisse Anzahl von Nullen, aber zu so vielen Nullen musste man erst einmal gelangen, hinter all den Verhaftungen und Denunziationen steckten Leute, und die Leute waren irgendwo, man begegnete ihnen auf der Straße, in den Geschäften und in den Treppenhäusern (…), wer weiß, ob die alten Frauen, die heute auf dem Markt einkaufen, vor 50 Jahren nicht jemanden denunziert, sich seine Möbel geschnappt hatten?«
Man wünscht sich, dass dieses Buch, das sich mit den Niederungen des Alltags, den gewöhnlichen Bürgern und vor allem mit dem, was nicht geschehen ist, dem Unterlassenen, in dieser kritischen Weise auseinandersetzt, viele Leser in Deutschland findet. Nach all den großen Epen über Bombenkrieg, Gustloff-Untergang, Flucht und Vertreibung, deutsches Opfertum sowie das ominöse »Leiden an der deutschen Schuld« wäre das mehr als wünschenswert. Wajsbrots »Verrat« ist zweifellos einer der wichtigsten Buchmessen-Titel.
Cécile Wajsbrot: Der Verrat. Liebeskind, München 2006, 253 S., 19,80 Euro
© Tanja Dückers, Februar-März 2006