literaturen, Heft 3 / 2010
Letzte Woche starb Breschnew. Wenige Tage später die Köpfe der zweiten Generation der RAF, Mohnhaupt, Schulz und Klar, festgenommen. Lech Walesa freigelassen. Ich lebe im Jahr 1982, ob ich nun am Schreibtisch sitze oder nicht. Beim Einkaufen ertappe ich mich dabei, Waldmeister-Brause in meinen Korb zu legen, nur weil meine Protagonistin süchtig nach ihr ist. Ich wünschte, ich könnte diesen Ohrwurm von Gottlieb Wendehals endlich loswerden, die Polonäse Blankenese. Seit Kurzem ein Riesenhit. Am Kiosk frage ich mich beim Durchsehen der Zeitungen: Was wird sich die neue schwarzgelbe Koalition dieses Mal leisten? Manchmal gibt es überraschende Übereinstimmungen mit der Gegenwart.
Ich bin mal wieder mit einem Roman eine Zwangsehe eingegangen. Es ist immer das Gleiche: Zu Beginn der Arbeit glaube ich naiverweise noch, dass der Romanstoff ein Produkt meiner Phantasie sei, doch je länger ich an dem Stoff sitze, desto mehr verkehrt sich das (Macht-)Verhältnis zwischen ihm und mir, die Seinsebene des Romans bestimmt mein Bewusstsein.
Im Restaurant mit Freunden ertappe ich mich dabei, „Papperlapp“ zu sagen, eine blöde Floskel, die mich schon bei einer meiner Romanfiguren nervte (war ihr aber nicht auszureden), jetzt fange ich auch noch damit an. Ein paar Tage später lamentiere ich über den Pudding, der nicht mehr warm genug sei. Hat mich das je gestört? Und will ich wirklich Moonboots tragen? Und Reagans turbokapitalistische Wirtschaftspolitik, die Reaganomics, habe ich doch nie befürwortet, oder?
Einmal stehe ich am U-Bahnhof und denke, da drüben läuft Tanja Dückers. Einen Moment lang habe ich eine unbekannte Passantin für mich selbst gehalten – so sehr bin ich in die Rolle meiner Hauptfigur geschlüpft. Die Zeitebenen geraten dabei durcheinander. Ich lebe im Jahr 1982 und bin ein Teenager, Frau Dückers auf dem U-Bahnhof, die sich hektisch umschaut und in ihr Handy blökt, ist Anfang 40.
Eine Zeitlang bin ich eine multiple Persönlichkeit – bis der Verlag sich das Manuskript schnappt und es zwischen zwei Buchdeckel bannt. Ab in den Käfig mit dem wilden Vogel. Bitte ein Hardcover. Und mein Name groß darauf. Schluss mit lustig, der kurze Sommer oder vielmehr die langen Winter der Anarchie sind vorbei. So ist das mit Revolution und Restauration. Jetzt erst trennt sich mein Leben wieder von „denen“ – denen da drinnen. Doch nachts träume ich noch von ihnen. Und über meinem Schreibtisch hängt ein Zitat von Fernando Pessoa, dem großen Träumenden. Es ist ein Stoßseufzer: „Ach, das ich nicht überall und alle Menschen sein kann…!“
Bei aller Bedrängung durch diese anderen Menschen, die sich meiner bemächtigen, ist die Sehnsucht nach dem Leben selbst in seiner Vielfältigkeit, die Sehnsucht nach anderen Lebensentwürfen (nie würde ich über eine Schriftstellerin schreiben), danach, einmal ein Mann oder wieder ein Kind sein oder in einer anderen Zeit leben zu können, größer als die Angst vor dieser Okkupation.
Verrückt geworden bin ich noch nicht. Warum auch, was spricht gegen Gastfreundlichkeit? Und bisher sind alle Gäste wieder verschwunden, in die ihnen zugewiesenen Seiten gesunken und schwarz auf weiß ganz still geworden.
Bis ein Leser vielleicht seine Pforten öffnet.