veröffentlicht in Jungle World, Juli 2005
Seit Jahrzehnten heißt es im Literaturbetrieb: »Schreib einen Roman! Nur ein Roman ist ein großer Wurf! Kurzgeschichten gehen nicht gut.« Die Erfolge amerikanischer Autoren mit Short Stories werden mit dem fundamental anderen Leseverhalten des dortigen Publikums erklärt; die Resonanz auf Judith Hermanns Erzählungsband hierzulande wird als »Ausnahme von der Regel« wegerklärt. In Wahrheit geht es hier nicht um Ökonomie, denn selbstredend könnte man auch Kurzgeschichten gut und wahrscheinlich sogar erfolgreicher als Romane bewerben. Tatsächlich steckt die urdeutsche Sehnsucht nach dem einen megalomanen, geistig weltumspannenden Kunstwerk dahinter. Doch im Schatten der Leserschaft deutscher Großschriftsteller wächst die Zahl derjenigen, die – beeinflusst vom Tempo cineastischer Produkte, nervös von den schnellen Schnitten der Videoclips – nicht geneigt sind, sich länger als zwanzig Minuten zu konzentrieren, und sehr gerne in der U-Bahn, im Billigflieger, vorm Einschlafen, in einer langweiligen Vorlesung oder im Park kurze Geschichten lesen.
Wer dann auch noch gerne psychologisch fundierte Geschichten über eigentümliche Charaktere und nicht normative Lebensläufe lesen will, dem sei »Schnitt« von Corinna Waffender empfohlen. Der geistig Zurückgebliebene, der Strichlisten über die Gewohnheiten der Dorfbewohner führt und einen tödlichen Unfall für nicht erwähnenswert hält, weil sich die Kategorie »Unfall« bei nur zwei Vorkommnissen in zwanzig Jahren nicht lohnen würde; die Geschwister Hilde und Manni, die seit fünf Jahrzehnten im gleichen Bett schlafen und ganz in ihrer eigenen Welt leben, gehören zu Waffenders stärksten Figuren. In »Schnitt« tauchen plötzlich Menschen auf, die bislang eher bei den Krankenkassen als in der Literatur auffällig wurden: Junge Frauen, die Aids haben, die als Zwitter geboren wurden und an denen über Jahre herumoperiert wurde; Leute, die schizophren sind, Alzheimer haben oder einfach nicht zurechtkommen. In einer nüchternen, unsentimentalen Sprache wird von Menschen erzählt, über die ansonsten entweder gutmenschelnd oder gar nicht geschrieben wird.
Oft geht es um die kleinen überraschenden Momente, in denen das Leben eine andere Wendung nimmt als erwartet. Da ist zum Beispiel der Autor, der im Zug mit einem Mitreisenden ins Gespräch gerät. Der Fahrgast liest gerade das neue Buch des Schriftstellers und kritisiert es in Grund und Boden. Oder der Mann, der sich während eines Winterurlaubs zu seiner Überraschung nicht in den coolen Skilehrer, sondern in einen Rollkragenpullover tragenden Pastoren verliebt und ein erotisches Abenteuer im Schnee erlebt. Oder – spannend wie ein Kurzkrimi geschrieben – die Geschichte von der Fotografin, die ihre Nachbarin durch Zufall beim Selbstmord ablichtet.
Passenderweise trägt Waffenders Erzählungsband den Untertitel »Minutenromane« und beweist tatsächlich, dass auch das kleine Format für große Würfe taugt.
Corinna Waffender: Schnitt. Minutenromane, Querverlag, Berlin 2005, 164 S., 14,90 Euro