ZEIT Online, 7. Februar 2008
Die Antwort auf die Frage: Was ist gesund? diktiert der Zeitgeist. In Deutschland hat er derzeit einen sehr strengen Ton. Tanja Dückers kommentiert unseren Vorsorgewahn
Stellen Sie sich vor, Sie müssten, bevor Sie in einem Restaurant Platz nehmen, auf die Waage steigen. Ein Computer würde blitzschnell Ihre Daten mit Bestellungsverboten ausspucken. Hernach würde man Ihnen das für Sie „geeignete“ Menu servieren.
Was nach Aldous Huxleys Schöne Neue Welt klingt, ist gar nicht so utopisch. Zumindest nicht, wenn man die gesundheitspolitischen Debatten in unserem Land verfolgt. Die öffentlichen Diskussionen um intime Dinge wie Bauchumfang, Spermienanzahl, Leib- und Magenspeisen sowie Schlaf- und Liebesgewohnheiten sind inflationär geworden. Kaum ein Lebensaspekt, der nicht unter dem Gesichtspunkt der Verwertbarkeit für unsere Gesundheit betrachtet wird: Da muss man in seriösen Magazinen lesen, dass Sex das Immunsystem fördert aber nur, wenn man zwei- bis dreimal pro Woche der Liebe frönt mehr ist auch wieder nicht gut! Dann wird Martin Luther („In der Woche zwier/schadet weder ihr noch mir“) zitiert, um dem Mode-Biologismus der Gegenwart ein bisschen Kultur einzuhauchen. Das, was an Sex mal aufregend war, wird jetzt unterm Wellnessaspekt verniedlicht. Doktorspiele aber anders als erwartet.
Selbst Frommsein und Glauben werden als Serotonin-Ausschütter erkannt und als bewährte Glücksdroge angesehen. „Als kürzlich Untersuchungen feststellten, dass Menschen, die beten und fromm sind, gesünder sind und länger leben, kam es zum Offenbarungseid der real existierenden offiziellen Religionen“, vermerkt der Theologe und Schriftsteller Manfred Lütz ( Gesundheit Das höchste Gut? ). „Mit Begeisterung wurden diese Berichte dort aufgenommen. Kirchliche Zeitungen druckten die Meldung ab, mit dem Unterton, das sei doch endlich mal eine frohe Botschaft. Man stelle sich vor: beten und fromm sein nicht, um möglichst sicher in den Himmel zu kommen, sondern um möglichst spät und möglichst gesund in den Himmel zu kommen.“
Erstaunt verfolgt man ernst gemeinte Diskussionen darüber, ob Dicke zu viel Co2 „ausstoßen“. Laut dem britischen Medizinprofessor Ian Roberts von der London School of Hygiene and Tropical Medicine stellt die „grassierende Fettsucht“ eine Klimabelastung dar, weil Übergewichtige im Sommer eher transpirieren und dann frech die Klimaanlage anwerfen. Ferner konsumieren sie bis zu 40 Prozent mehr Lebensmittel als Schlanke, zitiert das Ernährungsmagazin Schrot und Korn den Medizinprofessor. Arme Dicke. Laut einer neuen amerikanischen Studie würden 75 Prozent der werdenden Eltern ihr Kind abtreiben, wenn sie wüssten, dass es ein Adipositas-Gen in sich trüge.
„Was ist, wenn alles nur eine dicke fette Lüge war?“, titelte die New York Times am 7. Juli 2007, denn neue Studien hatten ergeben, dass fettarme Kost in vielen Fällen nicht der richtige Weg gewesen sei, um das Gewicht zu reduzieren. Doch bald wurde ein neuer Übeltäter gesichtet: die eben noch für gesund und nahrhaft befundenen Kohlehydrate. Von heute auf morgen wurden “ Low-Carb „-Produkte propagiert. Wie schon Dieter Lenzen in Krankheit als Erfindung (1991) analysiert hat, sind die Begriffe Gesundheit und Krankheit vom jeweiligen Zeitgeist geformt.
So stehen derzeit Allergien und Phobien hoch im Kurs. Besonders auf dem seelischen Sektor sind wir sehr anfällig geworden: Schüchternheit wird zur „sozialen Phobie“ aufgebauscht, Bewegungsdrang und Unaufmerksamkeit bei Kindern zur „Hyperaktivitätsstörung“. Dass die Pharmaindustrie mehr Geld für Marketing als für die Forschung ausgibt, ist bekannt.
Während die Bürger medial und politisch unter Druck gesetzt werden, einer gesunden Lebensweise nachzugehen, werden Gesundheitsvorsorge und ärztliche Behandlungen immer teurer. In Deutschland korreliert Langlebigkeit mit keinem anderen Parameter so stark wie mit dem Einkommen. In Berlin beträgt die Differenz in der Lebenserwartung zwischen dem wohlhabenden Bezirk Zehlendorf und dem armen Friedrichshain-Kreuzberg satte vier Jahre (Quelle: Berliner Sozialatlas, 2007). Auch ist laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV) die Anzahl der Arztbesuche in Deutschland seit Einführung der Praxisgebühr im Jahr 2004 rückläufig kein gutes Zeichen.
Überdies kann die Warnung vor gesundheitlichen Gefahren als politisches und moralisches Druckmittel verwendet werden. Man kann sich gut vorstellen, wie schnell die Lebensweise kinderloser Menschen, hetero- wie homosexueller, infrage gestellt werden könnte, wenn man hervorhebt, dass die Brustkrebsrate bei später Erstgeburt oder keiner Geburt steigt. Verschiedene Randgruppen und gesellschaftlich Schwächere könnten unter dem Deckmantel der ungesunden Lebensführung pathologisiert werden. Die Pathologisierung ist jedoch auch eine Form der Diskriminierung.
Ich bin gespannt auf die Waage oder das BMI-Messgerät vor den Restaurants. In den USA stehen solche Dinger bereits in einigen Einkaufszentren.