veröffentlicht auf ZEIT Online, Mai 2015
Der Boston-Marathon-Attentäter war zum Tatzeitpunkt erst 19 Jahre alt. Er hätte nach dem Jugendstrafrecht verurteilt werden sollen. Doch das wird willkürlich angewendet.
Gestern ist das Urteil gegen Dschochar Zarnajew, einen der beiden Boston-Marathon-Attentäter, verkündet worden: Die zwölf Geschworenen – sieben Frauen und fünf Männer – haben einstimmig für die Todesstrafe gestimmt.
Das ist eine schockierende und für die zweitgrößte Demokratie der Welt sehr beschämende Nachricht.
Man kann das Urteil nur als emotionalisierte Reaktion einer noch immer verletzten Nation begreifen, die den gnadenlosen „Krieg gegen den Terror“ als eines ihrer obersten Staatsziele ausgerufen hat. Selbstverständlich müssen Terroristen, vor allem im eigenen Land, hart und effizient bekämpft werden, aber maßvolles juristisches und politisches Handeln in Übereinstimmung mit einer Demokratie würdigen Auffassung von Menschenrechten darf trotzdem nicht außer Kraft gesetzt werden.
Die Ungerechtigkeit dieses Urteils ist auf verschiedenen Ebenen anzusiedeln:
Allein dass das Bundesgericht hier nun mit der Urteilsfindung beauftragt wurde, ist juristisch als heikel anzusehen. Denn viele Verbrecher in der Vergangenheit wie Charles Manson (er wurde nicht zum Tode verurteilt, ist aber für den Verlust von weitaus mehr Menschenleben als Zarnajew verantwortlich) haben explizit für Gewalt nicht nur gegen Individuen, sondern gegen den amerikanischen Staat und das „System“ an sich ausgerufen.
Der hochdekorierte Golfkriegsveteran und Oklahoma-Attentäter Timothy McVeigh, der im Jahr 1995 168 Menschen in die Luft gesprengt und seine Tat als politisch motiviert betrachtet hat, wurde wiederum vom Bundesgericht zum Tode verurteilt und sechs Jahre später hingerichtet.
(Quelle: http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/oklahoma-attentat-timothy-mcveigh-hingerichtet-124287.html)
Bisher scheint sich keine einheitliche und nachvollziehbare Politik im Bezug auf die Einschaltung des Bundesgerichts durchgesetzt zu haben. Die Beurteilung der gesellschaftspolitischen Tragweite von Verbrechen – und somit der Überantwortung des Prozesses an das Bundesgericht – mutet willkürlich an.
Das Todesurteil gegen Dschochar Zarnajew ist aber vor allem aus Gründen der vollkommen absenten Logik der amerikanischen Gesetzgebung in Bezug auf die Anwendung des Jugendstrafrechts abzulehnen. Zum Tatzeitpunkt war Zarnajew erst 19 Jahre alt. Bei der Planung des Vorhabens war er noch jünger. Das amerikanische Jugendstrafrecht wird oft bis zum Alter von 21 Jahren angewendet. Warum sollten Gewalttaten, deren Motiv politischer Irrsinn und ideologische Verblendung sind, nicht gerade eine Korrelation zum Alter aufweisen? Zarnajew war zum Tatzeitpunkt ein von seinem älteren und dominanten Bruder stark beeinflusster, ideologisch radikalisierter Terrorist im Teenageralter, aber nach allen bisherigen Erkenntnissen der amerikanischen Gerichtspsychiater kein Psychopath, kein Serienkiller.
Allerdings wird das amerikanische Jugendstrafrecht schon seit jeher sehr willkürlich angewendet. So hat Amnesty International im August 2010 die Anwendung des Erwachsenenstrafrechts auf einen Zwölfjährigen im Bundesstaat Pennsylvania kritisiert. Dem Schüler Jordan Brown wurde vorgeworfen, die Geliebte seines Vaters erschossen zu haben. Das Jugendstrafrecht in den USA sieht weder Todesurteile noch lebenslange Haft ohne Bewährung vor. Später wurde doch noch das Jugendgericht eingeschaltet, doch gibt es seit zwei Jahren juristische Bemühungen, den Fall Brown wieder vor einem Erwachsenengericht zu verhandeln. Der Junge sitzt noch immer im Gefängnis.
193 Staaten haben derweil ein UN-Abkommen über die Rechte von Kindern in Strafprozessen unterzeichnet, nur zwei Länder haben ihre Unterschrift bisher verweigert: Die Vereinigten Staaten von Amerika und Somalia. Nach Amnesty International sind die USA „vermutlich der einzige Staat, in dem Jugendliche zu einer lebenslangen Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt werden. Zwar schließen die Gesetze verschiedener weiterer Staaten diese Praxis nicht prinzipiell aus, Amnesty International ist jedoch nicht bekannt, dass diese Strafe in den vergangenen Jahren in einem anderen Land verhängt worden wäre.“
Quelle: http://www.amnesty.de/urgent-action/ua-097-2010-1/zwoelfjaehrigem-droht-lebenslaengliche-freiheitsstrafe
Die amerikanische Gesetzgebung in Bezug auf Jugendliche wird nicht nur äußerst willkürlich angewendet, sie weist auch für sich betrachtet hochgradig fragwürdige Regelungen auf:
So verbietet sie den Alkoholausschank für Unter-21-Jährige. Bei Missbrauch rückt die Polizei an. In einigen Bundesstaaten ist Unter-21-Jährigen Oralsex verboten. Von manchen anderen Sexualpraktiken wie Analsex ganz zu schweigen. Wo Sex und Alkohol verboten sind, sind Pistolen und Gewehre erlaubt: Der Schusswaffengebrauch ist schon für Kinder legal. Deshalb konnte dem zwölfjährigen Todesschützen in Pennsylvania auch nicht illegaler Waffengebrauch vorgeworden werden: Die Waffe, mit der Jordan Brown die 26-jährige schwangere neue Freundin seines Vaters erschossen hat, durfte er nach gültigem Recht besitzen: Denn dieses Gewehr sei für Kinder „designt“ und musste daher nicht einmal registriert werden. (Quelle: http://www.huffingtonpost.com/2009/02/21/jordan-brown-killed-fathe_n_168862.html)
Die Jugendlichen zwischen 18 und 21 Jahren, die man aus Gründen der mangelnden Reife und des noch fehlenden Verantwortungsvermögens mit allen Mitteln vor Promille-Rausch und körperlicher Liebe schützen will, hält man jedoch für erwachsen und vernünftig genug, um ihnen die schwerste Strafe, die ein Staat meint verhängen zu dürfen, zuzumuten: die Todesstrafe.
Die Anwälte von Dschochar Zarnajew werden vermutlich Berufung einlegen. Der Fall des Boston-Marathon-Attentäters kann sich noch lange hinziehen. Auch wenn über dessen Ende zum jetzigen Zeitpunkt nur spekuliert werden kann: Die Amerikaner sollten sich um eine gründliche Reformierung ihrer Jugendgesetzgebung und deren plausibler Anwendung kümmern, bevor sie junge Menschen, die zum Tatzeitpunkt Teenager waren, auf Staatsgeheiß hinrichten.
© Tanja Dückers, im Mai 2015