veröffentlicht auf ZEIT Online, Januar 2013
Von einer Verbotskultur kann in Deutschland nicht die Rede sein. Beschränkungen erlegen wir uns im Streben nach Gesundheit und Leistung selbst auf.
Gibt es in Deutschland einen Hang zum Verbot? Darüber ist in den vergangenen Wochen allerlei geschrieben und diskutiert worden: Muss nach dem Rauchen in Kneipen auch der Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit verboten werden? Kennt der Deutsche auf Unvernunft stets nur eine Antwort – das Verbot?
Keineswegs. Denn mehr noch als eine Verbotskultur wirkt hierzulande eine Kultur der freiwilligen strengen Selbstkontrolle. Es gibt unzählige Vorsorgeuntersuchungen, Pässe, Scheine und Bonus-Heftchen, Körper und Geist stehen unter strenger Beobachtung. Doch geht es dabei nicht mehr wie früher um Sittenverfall und Zügellosigkeit, sondern um Gesundheit und Leistung. Überall stößt man auf Mahnungen und Warnungen, nicht nur auf Zigarettenpackungen. Dass Dinge wie Rauchen, Trinken, übermäßiger Zuckerkonsum oder schnelles Fahren gefährlich sind, weiß jeder. Muss man diese Binsenweisheiten erwachsenen Bürgern gegenüber ständig wiederholen?
In Deutschland ist die Bevormundung längst von der Pädagogisierung abgelöst worden. Es geht nicht mehr um die autoritäre Durchsetzung von Zielen, sondern um die wohlmeinende Erziehung des Bürgers. Er soll verstehen und sich selbst bessern. Er soll nicht auf ärztlich-autoritäre Weisung hören, sondern aus tiefer eigener Erkenntnis seinen Lebenswandel korrigieren. Selbstoptimierung ist eines der Schlüsselwörter aus der modernen Manager- und Coach-Sprache. Dabei muss alles offengelegt werden, jeder sich selbst durchleuchten und am besten Listen führen: Wann habe ich wie viel getrunken? Wie viele ungesättigte Fettsäuren waren es heute schon? Habe ich schon die nötigen Obst- und Gemüseportionen erreicht? War ich schon 30 Minuten bei Tageslicht draußen? Und was trägt diese Portion Pommes zu meinem Säure-Basen-Haushalt bei?
Kein Genuss ohne Reue
Was geschieht, wenn die Intimsphäre unter dem Vorwand des Guten und Rechten öffentlich gemacht wird, damit hat sich der in Berlinlehrende Philosoph und Byung-Chul Han in seinem Buch Transparenzgesellschaft beschäftigt. Hans zentrale These ist: Die heutige Gesellschaft ist vom Dogma der Transparenz beherrscht, alles muss offenbart, erklärt, bewiesen werden. Die von Krebs zerfressene Lunge muss auch unbedingt für jeden sichtbar gemacht werden.
Dieses zwanghafte Offenlegen hat für den psychischen Zustand einer Gesellschaft eine große Bedeutung. Anstelle von Vertrauen und Vorstellungskraft setzt sie auf Information und Kontrolle. Genuss ohne Reue ist somit kaum mehr möglich, denn man weiß ja vorher, wie die Leber und die Lunge später aussehen werden. Die Kontrollgesellschaft vollendet sich dort, „wo ihr Subjekt sich nicht aus äußerem Zwang, sondern aus selbstgeneriertem Bedürfnis heraus entblößt“, schreibt Han.
Und es wirkt ja. Auch ohne Rauchverbot weiß jeder Raucher, dass er Schlimmes tut und damit aufhören sollte. Kein Verbot erzeugt ein solches Gefühl.
In manchen Kulturen sind der Genuss von Alkohol oder der Verzehr bestimmter Fleischsorten untersagt. Hierzulande wird lieber gekennzeichnet, benannt, vorgesorgt, nachgesorgt, bewertet, informiert, offengelegt, enttarnt, mit einem Siegel versehen, mit einem Negativ-Preis geehrt und so weiter.
Die Autonomie des Individuums mit seiner Einwilligung zu untergraben, ist im Vergleich zur autoritären Erteilung von Befehlen oder Verboten die überlegene Führungsstrategie. Wenn es so weitergeht, wird Deutschland ein einziger großer Weight-Watchers-Club, in dem sich jeder selbst dauernd bewertet und überprüft. Und das auch noch freiwillig.
© Tanja Dückers, Januar 2013