ZEIT Online, 21. Oktober 2008
Obwohl es ihnen im internationalen Vergleich eigentlich gut geht, sind viele Deutsche unzufrieden. Sie vermissen die frühere Sicherheit in ihrem Leben. Eine Kolumne
Zunächst die gute Nachricht: Die Welt wird immer glücklicher. Das glauben zumindest die Wissenschaftler um den Politologen Ronald Inglehart von der University of Michigan. Seit Jahren befragen sie weltweit Hunderttausende von Menschen für den „World Values Survey“ und erstellen ein internationales Ranking des Glücks. In ihrer aktuellen Umfrage nahm fast überall die Zufriedenheit deutlich zu. Den ersten Platz belegt dabei Dänemark, gefolgt von der Schweiz, Island, den Niederlanden und Kanada. Auch Norwegen und Schweden liegen weit vorn.
Und nun die schlechte Botschaft: Deutschland gehört zu den wenigen Ländern, in denen das Wohlbefinden deutlich abgenommen hat.
Nun bedarf es nicht viel Fantasie, um mögliche Gründe dafür zu finden. Sind die Deutschen nicht einfach notorisch schlecht gelaunte Dauer-Pessimisten, Angsthasen und Langstreckenmuffel? Nicht zufällig gehört neben „Weltschmerz“ und „Blitzkrieg“ die „German Angst“ zum bekanntesten sprachlichen Exportgut.
Und das, obwohl es den Deutschen eigentlich blendend gehen müsste: Sie genießen eine sehr lange Friedensperiode und ein hohes Wohlstandsniveau – so gut wie heute ging es ihnen noch nie. Dennoch liegt Westdeutschland auf der Weltrangliste von 97 Staaten gerade mal auf Platz 35 – zwischen Malaysia und Vietnam. Ostdeutschland belegt die 49. Stelle. Tendenz: weiter fallend.
Für das Empfinden von Zufriedenheit spielt die ökonomische Sicherheit – wenig überraschend – eine entscheidende Rolle. Wer arm ist und hungert, braucht keinen Glücksforscher, um in Erfahrung zu bringen, was ihm fehlt. Die Bewohner reicher Länder sind insgesamt glücklicher. Auf der „Weltkarte des Glücks“, 2006 erstellt, bilden Kongo, Burundi und Simbabwe die Schlusslichter.
Schwieriger sind die Gründe für mangelndes und rückläufiges Glücksempfinden in Ländern zu beurteilen, die über ein hohes Maß an Wohlstand verfügen – wie eben Deutschland.
„Die Menschen sind in jenen Gesellschaften am glücklichsten, in denen sie am meisten Freiheiten für die eigene Lebensgestaltung haben“, stellt Inglehart fest. Demgemäß macht der amerikanische Wissenschaftler Demokratie und einen hohen Grad an sozialer Toleranz in einer Gesellschaft als zufriedenheitssteigernde Faktoren aus.
Man könnte nun einwenden, dass das Maß an persönlicher Freiheit, sozialer Toleranz und nicht zuletzt an ökonomischer Sicherheit in Deutschland im internationalen Vergleich nicht gerade niedrig ist. Aber um eine Erklärung für die Zufriedenheitsabnahme der Deutschen zu finden, muss bedacht werden, dass sie ihre gegenwärtige subjektive Zufriedenheit nicht in erster Linie aus dem internationalen Vergleich ableiten, sondern aus dem Vergleich mit ihrer eigenen Situation in der jüngeren Vergangenheit.
Das rückläufige Glücksempfinden, das Inglehart bei den Deutschen konstatiert, deckt sich mit den Ergebnissen des sozio-ökonomischen Panels (SOEP) des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin. Demnach hat sich der Grad der Lebenszufriedenheit bei fast jedem fünften befragten Deutschen innerhalb von 20 Jahren stark verringert. Vor allem Arbeitslose, Geringverdiener, ältere Bürger (über 60-Jährige) sowie generell Ostdeutsche sind mit ihrem Leben deutlich unzufriedener geworden.
Tatsächlich werden in Deutschland die vielen Reformen der letzten Jahre – von der Agenda 2010 bis Hartz IV – in ihrer Gesamtheit als stark glücksmindernd wahrgenommen. Auch beeinflusst die Arbeitsmarktentwicklung die Stimmung negativ: Nach der ebenfalls kürzlich veröffentlichten DGB-Studie „Gute Arbeit“ sind nur 13 Prozent der Beschäftigten mit ihrer Tätigkeit zufrieden, jeder Dritte bezeichnete seine Arbeitsbedingungen gar als mangelhaft. Die meisten Beschäftigten beklagen einen Mangel an Einfluss-, Qualifizierungs- und Entwicklungsmöglichkeiten. Außerdem fehlt vielen Befragten ein Mindestmaß an beruflicher Zukunftssicherheit.
Die Balance aus der „Freiheit für die eigene Lebensgestaltung“ und „ökonomischer Sicherheit“, die Inglehart in vielen prosperierenden Ländern als Glücksfaktor ausgemacht hat, ist offenbar aus Sicht vieler Deutscher in den vergangenen Jahren erheblich gestört worden. Auch sind bei den Ostdeutschen hohe Erwartungen enttäuscht worden. In vielen anderen postkommunistischen Ländern (die im Durchschnitt alle noch einen vergleichsweise geringen „Glückswert“ aufweisen) hingegen steigt das Wohlbefinden stetig mit dem langsam wachsenden Wohlstand.
Interessant ist jedoch auch, dass sich die Einstellung der Deutschen zum Glücklichsein in den vergangenen 50 Jahren stark verändert hat. Denn das Streben nach Glück – als „pursuit of happiness“ in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 verankert und schon lange Bestandteil des amerikanischen Selbstverständnisses – hat auch hierzulande immer mehr an Bedeutung gewonnen. Der Wunsch nach individuellem Glücklichsein auf Erden gilt längst nicht mehr als gemeinschaftsfeindlicher Egoismus oder als profan-sinnentleerter, gottferner Hedonismus. Vielmehr wird Glücklichsein als eine Art Grundrecht empfunden. Noch 1974 beantworten nur 49 Prozent der Deutschen die Frage „Worin sehen Sie den Sinn Ihres Lebens?“ mit „Dass ich glücklich bin“. Heute sind es 67 Prozent.
Doch von der erklärten Suche nach dem großen Glück bis zur schlichten Zufriedenheit ist es wohl ein weiter Weg. Mal sehen, ob Vietnam in der nächsten Glücksstudie Deutschland abgehängt haben wird.