Uneinigkeit in der Flüchtlingspolitik, Euro-Krise, hasserfüllte Kommentare im Internet zu beinahe jedem Thema – negative Nachrichten dominieren die Medien, irrlichtern durch die sorgenbereiten Gemüter vieler deutscher Bürger. Wer sich von grellen Schlagzeilen leiten lässt und sich nicht fundierter mit einem Thema auseinandersetzt, ist kaum in der Lage, zu beurteilen, ob das Leben in Deutschland wirklich gefährlicher, ungesünder, schwieriger und ungerechter geworden ist als früher. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, sieht Deutschland als ein „reich gesegnetes Land“, das zu sehr dem Negativen verhaftet ist. „Dass hier so häufig eine Stimmung entsteht, als ob wir kurz vor dem Abnippeln sind, das ist wirklich ein Problem“, sagte der Theologe im Gespräch mit Radio Bremen. Allerdings gebe es auch viele Menschen, die wirklich kämpfen müssten. Sachlichkeit und vertiefte Recherchen könnten jedoch oft helfen, Problemen weniger affektgesteuert zu begegnen.
Der größte Profiteur von der neuen Lust an der Selbstzerfleischung und dem Dauerjammern sind derzeit die rechtsaußen-Parteien. Auch wenn viele Kritiker mit guten Absichten alarmieren, Klima, Demokratie, Toleranz und Liberalität retten wollen, so verbreiten sie eben in erster Linie Alarmismus. Und wer sich in Folge dessen für existenziell gefährdet hält, wählt nicht moderat, sondern wendet sich vermeintlichen „Rettern“ zu.
Ohne Zweifel: Wir befinden uns in einer herausfordernden Zeit. Seit dem Zweiten Weltkrieg haben sich noch nie so viele Menschen auf der Flucht befunden. Das Ausmaß der Umweltzerstörungen, die wir vor allem in den letzten hundert Jahren verübt haben, wird uns erst langsam bewusst. Frauen verdienen immer noch deutlich weniger als Männer. Und Deutschland ist immer noch ein Land, in dem die soziale Schichttransparenz gering ausgeprägt ist, das heißt: Kinder von Akademikern werden ebenfalls Akademiker, Kinder aus der sogenannten Unterschicht haben deutlich schlechtere Aufstiegschancen.
Doch es ist ein Irrglaube, zu meinen, es hätte jemals weniger herausfordernde Zeiten gegeben. Allen Unkenrufen zum Trotz: Statistisch gesehen haben die Deutschen noch nie so gut gelebt wie heute. Wohlstand und Bildung haben bedeutend zugenommen. Noch nie haben so viele Jugendliche einen akademischen Abschluss besessen. Um 1970 lag sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR die Abiturientenquote bei um 12 % pro Jahrgang. 1992, kurz nach der Wende, legten 31 Prozent der Schüler eines Jahrgangs das Abitur ab. Im Jahr 2000 waren es 37 Prozent, 2015 schon 53 %. Und auch nach dem Schulabschuss besteht kein Grund zur Panik: Die Arbeitslosenrate in Deutschland liegt aktuell bei 5,4 %. Vor neun Jahren lag sie bei 8,1, % und vor dreizehn Jahren bei 11,7 %. Und: Der durchschnittliche Deutsche besitzt heute doppelt so viel Wohnraum und Güter wie noch Mitte der Siebziger Jahre.
Soeben wurde die neue Mercer-Studie der lebenswertesten Städte weltweit veröffentlicht. Unter die ersten 20 Städte schafften es gleich mehrere deutsche Städte: München, Hamburg, Berlin und Düsseldorf. Wenn man den Blick erweitert auf deutschsprachige Länder, kommen Wien, Zürich, Genf, Bern und Basel dazu. Keine geographisch derart kleine Region auf der Welt hat auch nur entfernt solch eine Anzahl an Städten mit hoher Lebensqualität zu bieten. Kriterien sind u. A. die Sicherheit in den Städten, das Vorhandensein von großen Grünflächen, Nachhaltigkeit des Wirtschaftens, Maßnahmen zum Erhalt der Umwelt, die generelle Stadtentwicklung, das Job-Angebot, die Arbeitslosenzahl, die Aufgeschlossenheit gegenüber Minderheiten sowie deren Sicherheit, die Repräsentation von Frauen, das kulturelle Angebot.
Es ist beschämend, dass Frauen in Deutschland nach wie vor ein Viertel weniger verdienen als Männer. Darüber wird viel debattiert, und langsam mehrt sich die Zahl der Frauen in Führungspositionen, in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Die Me-Too-Debatte hat ans Tageslicht gebracht, mit welcher Selbstverständlichkeit Männer ihre Machtposition gegenüber Frauen ausnutzten. Das ist sehr erschreckend, aber so wie vorher wird es nicht weitergehen. Nach Zahlen des Statistischen Bundesamts ist die Erwerbstätigenquote der Frauen in Deutschland in den letzten zehn Jahren deutlich gestiegen. 2007 lag sie noch bei 66,7 %, im letzten Jahr bei 75,2 %. Damit hat Deutschland hat in der EU die dritthöchste Erwerbstätigenquote der Frauen. Höher war sie nur in Schweden (79,8 %) und Litauen (75,5 %).
Die Akzeptanz von verschiedenen Lebensentwürfen ist deutlich gestiegen. So befreit von gesellschaftlichen Zwängen wie heute haben die Deutschen noch nie gelebt. Man kann sich kaum mehr vorstellen, was für Verbote noch Anfang der Siebziger Jahre existierten: Homosexualität stand unter Strafe (der berühmte Paragraph § 175 des deutschen Strafgesetzbuchs existierte bis 1994). Heute gibt es die Ehe für alle. Frauen mussten ihre Ehemänner bis 1962 um Erlaubnis bitten, wenn sie ein Bankkonto eröffnen oder eine Reise antreten wolllten. Erst ab 1977 durfte eine Frau ohne Zustimmung ihres Mannes arbeiten gehen. Kinderrechte wurden kleingeschrieben. Das „Züchtigungsrecht“ der Eltern gegenüber ihren Kindern wurde in Deutschland erst im Jahr 2000 ersatzlos aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch gestrichen. Vor dem Jahr 2000 hatten Kinder in Deutschland noch kein „Recht auf gewaltfreie Erziehung“. Auch wenn am Restauranttisch nebenan mal ein kleiner Dreikäsehoch nervt: Der Missbrauchsskandal (2010) hat deutlich gemacht, wie selbstverständlich und weit verbreitet – vom katholischen Internat bis zu linken Reformschule – die Missachtung der körperlichen Unversehrtheit Kindern bis dahin gewesen ist.
Natürlich ist der Klima- und Umweltschutz ein viel zu lange vernachlässigtes Thema. Immerhin: Die Zahl der Beschäftigten im Umweltschutz ist in den vergangenen Jahren stetig gestiegen: 2018 sind in dieser Branche mehr als zwei Millionen Menschen in Deutschland tätig, das sind 5,2 Prozent der Erwerbstätigen. Und mindestens die Jugend ist willens, in Zukunft anders zu leben: Nach der in diesem Jahr vom Bundesumweltministerium in Auftrag gegebenen Studie „Zukunft? Jugend fragen!“ ist Umweltschutz den 14- bis 22-Jährigen von zentraler Bedeutung: 45 Prozent verzichten auf Plastiktüten, 31 Prozent legen grundsätzlich Wert auf nachhaltige Produkte. 33 Prozent benutzen Recyclingpapier und 29 Prozent kaufen Biolebensmittel. Schon mehr als jeder Vierte sagt über sich, er oder sie verzichte auf Flugreisen. Auch wenn Deutschland noch viel zu sehr auf die Autoindustrie setzt wie der rückwärtsgewandte Bundesverkehrswegeplan 2030 vom ehemaligen Verkehrsminister Dobrindt verdeutlicht hat: Das Auto hat als Statussymbol bei der Jugend signifikant an Bedeutung verloren. Robert Schönduwe vom Berliner Innovationszentrum für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel hat das Phänomen mit „Von der ‚Generation Golf’ zur ‚Generation Mietwagen’“ betitelt. Andere sprechen schon vom Outo statt vom Auto.
Was das Thema Flüchtlinge angeht, scheinen die Jüngeren weitaus offener und weniger verunsichert zu sein als ihre Eltern und Großeltern: Nach der jüngsten SINUS-Jugendstudie („Wie ticken Jugendliche?“, 2016, Auftraggeber der Studie sind u. A. die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung und die Bundeszentrale für politische Bildung) nimmt die Akzeptanz von gesellschaftlicher Vielfalt zu. Vor Zuwanderung und Flüchtlingen haben die Jugendlichen weniger Angst als vor steigendem Fremdenhass. Der überwiegende Teil der 14-17-Jährigen ist für die Aufnahme von Flüchtlingen und fordert mehr Engagement für Integration. 48 Prozent der Jugendlichen haben Angst vor Ausländerfeindlichkeit (2010: 40 Prozent). Demgegenüber sind die Jugendlichen offener gegenüber Zuwanderung geworden. Noch 2002 plädierten 48 Prozent der Jugendlichen und 2006 sogar 58 Prozent dafür, die Zuwanderung nach Deutschland zu verringern. 2015 unterstützen nur noch 37 Prozent diese Aussage. Nur 29 Prozent der Jugendlichen fürchten sich vor Zuwanderung. Allerdings gibt es markante Unterschiede zwischen West und Ost: Während nur 35 Prozent der Jugendlichen aus den westlichen Ländern eine verringerte Zuwanderung nach Deutschland wünschen, sind es in den östlichen Ländern (inklusive Berlin) 49 Prozent. Die Ergebnisse der SINUS-Studie stimmen weitgehend mit denen der jüngsten Shell-Jugendstudie überein (2015: 17. Shell Jugendstudie). Die Mehrheit der Jugendlichen sieht Zuwanderung positiv und hat ein „stabiles Wertesystem“.
Gerade mit Blick auf viele in der Integration von Geflüchteten tätigen Schüler, die sich um neue Mitschüler kümmern, muss man fragen: Können wir nicht auch stolzer darauf sein, dass Deutschland, anders als andere europäische Länder, viele Geflüchtete aufgenommen hat? Auch wenn es immer wieder Pannen und auch Katastrophen gibt (so das vom 2011 nach Deutschland eingereisten Tunesier Anis Amri verübte Attentat auf dem Berliner Weihnachtsmarkt): Die halbe Welt lobt Deutschland wegen seiner Hilfsbereitschaft. Jeder kennt heutzutage den geifernden Höcke, doch wer kennt die vielen Helfer?
In der Einwanderungsdebatte geht es derzeit vor allem um die steigenden Flüchtlingszahlen. Dabei gerät oft in Vergessenheit: Deutschland erlebt nicht zum ersten Mal eine erhöhte Migration. Schon lange wandern Menschen nach Deutschland ein. Die Einwanderungen nach Deutschland sind in der Retrospektive alle ziemlich erfolgreich verlaufen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kamen 12 Millionen Flüchtlinge, ab Mitte der Fünfziger Jahre 14 Millionen Gastarbeiter, von denen jedoch nach dem Anwerbestopp 1973 gut 10 Millionen wieder in ihre Heimatländer zurückkehrten, ferner viele Ex-Jugoslawen, Spätaussiedler, Russland- und Rumäniendeutsche, später viele Bürger der Europäischen Union im Zuge der Freizügigkeit. Die Migrationswelle der letzten Jahre stellt nicht die heraufbeschworene Jahrhundertkatastrophe dar, wie oft behauptet wird. In Deutschland hat man jedoch lange geschlafen, was die Anzahl der Flüchtenden, die z.B. Amnesty International schon lange vorausgesagt hat, angeht. 2015 war man dann unvorbereitet – bürokratisches Chaos wie im Berliner LAGESO hätte mit mehr vorausschauender Planung vermieden werden können.
Was auch zu wenig gewertschätzt wird: Anders als oft unterstellt, sind „die“ Medien keineswegs „gleichgeschaltet“: Fast alles wird in Deutschland kontrovers diskutiert, von Meinungsmonotonie kann nicht die Rede sein: Verbot der NPD ja oder nein? Ein fleischloser Kantinentag pro Woche? Kirchensteuererhebung mit Staatsgeldern? Diese kleine Auswahl an Themen, die in den letzten Jahren kontrovers diskutiert wurden, macht deutlich, dass es keinen Mangel an Meinungsvielfalt gibt.
Es gibt dennoch keinen Grund sich zurückzulehnen. Es gibt Bereiche, in denen es in Deutschland – trotz vieler positiver Entwicklungen – Rückschritte gibt. Noch nie nach Ende des Zweiten Weltkriegs waren Juden in Deutschland so gefährdet wie heute. Deutschland hat sich ferner zu einem regelrechten Hub des Menschenhandels zwischen Ost und West entwickelt. Und natürlich ist die Anzahl von Salafisten in Deutschland beunruhigend. Das Tempo von Reformen und Bewusstseinsveränderungen ist in Deutschland zudem oft zum Verzweifeln zäh. Es gab immer wieder Backlash-Bewegungen, und als eine solche muss man auch die AFD auffassen, die angstgesteuert eine vormodern geordnete Welt, orientiert an ethnisch homogenen Nationalstaaten wie Ende des 19. Jahrhunderts, anstrebt. Sie ist zu eng und zwanghaft in ihrem Denken, um andere Lebensmodelle als die klassische heterosexuelle Familie mit vorgeschriebener Aufgabenverteilung als nicht bedrohlich zu empfinden. Das Reich des Anderen, des Dazwischens, des Ungreifbaren oder auch nur des Möglichen darf nicht sein. Doch allein aufgrund der demographischen Entwicklung haben die Progressiven, die Beweglichen, die Ökologisch-Interessierten und die Kosmopoliten die Nase vorn, wie die jüngsten Jugendstudien wieder bewiesen haben. Denn es sind eher die Älteren (wenn auch nicht die ganz Alten), die AFD und NPD wählen (und in Großbritannien für den Brexit gestimmt haben), Frauen zurück an den Herd wünschen und dicke SUVs fahren statt Mountainbike. Der Vorteil, den die Rechtsextremen haben, ist: Angst ist ansteckend.
Man darf nicht vergessen: Früher war massive Kritik am Staat eher eine linke Haltung. Es waren junge Punks, die „Polizei = SA / SS“ und „Bullenschweine“ schrien. Heute kommt die schärfste Kritik am Staat, stammen die düstersten Katastrophenszenarien – von „Deutschland schafft sich ab“ über hysterische Überfremdungsparolen bis hin zu bizarren Verschwörungstheorien, was die „Gleichschaltung von Medien und Politik“ angeht – von rechts. Kritik am Status Quo, an der Verfasstheit eines Landes und an seiner Gesetzgebung ist, zumindest in Demokratien, oft impulsgebend für Reformen, Innovation und Fortschritt gewesen. Aber wer ständig orakelt, dass Deutschland „vor dem Abgrund“ steht, unterstützt im Moment diejenigen, denen er oder sie vielleicht nicht als Werkzeug dienlich sein möchte.
© Tanja Dückers, Berlin, im August 2018