ZEIT Online, 2. Juli 2009
Die Deutschen stehen der Wirtschaftskrise bislang gelassen gegenüber. Doch bei den Selbstständigen und befristet Beschäftigten ist sie längst angekommen
rise, welche Krise? Während in den Nachrichten eine Hiobsbotschaft auf die nächste folgt, ist im Alltag vieler Deutscher noch wenig von der Krise zu spüren. Die Opel-Insolvenz oder die Karstadt-Pleite bestimmen zwar seit Wochen die Schlagzeilen, und fast täglich orakeln Experten, wann die große Entlassungswelle kommt: Auf mindestens fünf Millionen soll die Zahl der Arbeitslosen bis Ende des Jahres steigen. Doch die Deutschen kaufen munter weiter, frei nach dem Motto, es wird schon jemand anderen treffen.
Von Protesten, gar sozialen Unruhen, die manche Buchautoren wie Udo Ulfkotte („Vorsicht Bürgerkrieg! Was lange gärt, wird endlich Wut“) prognostizieren, ist derzeit, zumindest in Deutschland, wenig zu bemerken. Die Kaufhäuser sind ebenso voll wie die Urlaubsflieger. Trotz Katastrophenmeldungen über die schlimmste Wirtschaftskrise seit 1929 geht das Leben weiter wie gehabt.
Eine erstaunliche Situation, die so gar nicht zur bekannten „German Angst“ passt. Während die Deutschen in der Vergangenheit vor allem als Weltmeister im Schwarzsehen aufgefallen sind, scheinen sie ausgerechnet in der aktuellen Krise eine neue Form von Gelassenheit entdeckt zu haben.
Also alles halb so schlimm? Oder gibt es andere Gründe für den überraschenden Gleichmut? Tatsächlich sind bislang vor allem die prekär Beschäftigten von der Krise betroffen, und diese repräsentieren eben (noch) nicht das Gros der Bevölkerung. Doch ist die Zahl der Zeitverträge und der befristeten Jobs in den vergangenen Jahren rasant gestiegen. Nach einer aktuellen Studie von Johannes Giesecke und Philip Wotschack vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) gibt es derzeit mehr als drei Millionen Arbeitnehmer in „unsicheren Arbeitsverhältnissen“. Rund 2,5 Millionen, darunter viele Frauen, gehen einer befristeten Beschäftigung nach, etwa 800.000, vor allem Männer, verdienen ihr Geld als Zeitarbeiter. In beiden Gruppen sind jüngere und gering qualifizierte Arbeitnehmer besonders häufig anzutreffen.
Seit geraumer Zeit dünnen die Unternehmen ihre Kernbelegschaften aus und bauen stattdessen eine flexible Randbelegschaft auf. So können sie kurzfristig ihren Personalbestand der jeweiligen wirtschaftlichen Entwicklung anpassen. Zugleich wird diese Entwicklung auch von der Politik gefördert – die flexiblen Regelungen sollen Arbeitslosen zu einem schnelleren Einstieg in einen neuen Job verhelfen.
Sind die Zeiten schwierig, wie jetzt, dann sitzen die prekär Beschäftigten jedoch als erste auf der Straße. Zwei Drittel der befristeten Beschäftigungsverhältnisse weisen nach der WZB-Studie eine Laufzeit von maximal zwölf Monaten auf – eine Verlängerung wird es für viele nicht geben.
Ein Wunder, dass sich der breite Rand der Arbeitsgesellschaft kaum Gehör verschafft. Während die gut organisierten Kernbelegschaften von großen Unternehmen wie Opel über eine starke politische Lobby verfügen, und, zumal in Wahlkampfzeiten, lautstark auf sich aufmerksam machen können, haben die Prekären schlechte Chancen: Sie sind nicht organisiert, verfügen über keine einflussreiche Lobby und lassen sich kaum medienwirksam mobilisieren. Wer hätte je von einer Demonstration von Zeitarbeitern gehört? Dass sie zu den ersten Opfern der Wirtschaftskrise gehören, wird von vielen selbstverständlich hingenommen: Ihr Jobverlust war eh nur eine Frage der Zeit.
Doch nicht nur die wenig qualifizierten Beschäftigten sind von Arbeitslosigkeit betroffen, auch zahlreiche gut ausgebildete Fachkräfte sind in ihrer beruflichen Existenz bedroht. Bereits im Frühjahr warnte der Bundesverband der Freien Berufe, dass mittelfristig rund 400.000 von 2,9 Millionen Selbständigen ihre Arbeitsplätze verlieren könnten. Schon jetzt können viele Selbstständige, auch vermeintlich besser situierte wie Rechtsanwälte oder Architekten, nur mühsam ihr Auskommen sichern. Etwa 30 Prozent der freiberuflichen Architekten verdienen monatlich weniger als 1250 Euro netto. Ähnlich ist die Lage von vielen Rechtsanwälten und Journalisten. Ein paar Mandanten oder Aufträge weniger, und schon stehen sie vor dem Aus.
Hinzu kommen die sogenannten kreativen Selbstständigen in den Medien und im künstlerischen Bereich – vom Software-Experten bis zum Modedesigner. Die neue Do-it-yourself-Generation galt bis vor Kurzem als Vorreiter eines neuen boomenden Arbeitsmarktes, in dem junge Selbständige ihre Jobs, bevorzugt in kreativen Nischen, selbst schufen. Zugleich stellten jedoch zahlreiche Studien wie die der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages (2007) fest, dass ein großer Teil der so gefeierten kreativen Klasse am Rande des Existenzminimums lebt. Diese meist noch jungen Selbstständigen verfügen zumindest über den Vorteil, bereits an Durststrecken und permanente Krisenbewältigung gewöhnt zu sein – Umzug in eine noch kleinere Wohnung, Darlehen von den Eltern, Fahrrad statt Auto, Wasser statt Bionade.
Ebenso wie die wenig qualifizierten Beschäftigten sind auch die meist gut ausgebildeten Kreativen vornehmlich mit sich selbst beschäftigt: Sie sind kaum besser organisiert – denn oftmals handelt es sich um Einzelkämpfer – und verfügen über keine medienwirksame Repräsentanz. Entsprechend wenig werden sie von der Öffentlichkeit wahrgenommen, obwohl die Krise sie in besonderem Maße in ihrer Existenz bedroht.
Die Mehrheit der Deutschen beobachtet die Wirtschaftkrise bislang gelassen, weil sie nicht unmittelbar von ihr bedroht ist. Diejenigen hingegen, die unter ihr zu leiden haben und nicht zu einem großen Konzern gehören, betrachten sie offenbar als individuell zu tragendes Schicksal und agieren wie gewohnt: selbstständig, selbstausbeuterisch und leise.